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Brita Steinwendtner: „Gesicht im blinden Spiegel“

Autorin Brita Steinwendtner. © David Sailer IMAGES

In ihrem neuen Roman, „Gesicht im blinden Spiegel“ blickt Brita Steinwendtner mehr als 150 Jahre zurück und berührt mit ihrer feinen, poetischen Erzählung von Krieg und Frieden doch auch die Gegenwart. Mit 16 Jahren und lautem Hurra zieht der deutsch-böhmische Trompeter Johannes Czermak in den Krieg. In der Schlacht bei Königgrätz will er seine Heimat Österreich gegen die Armee der Preußen verteidigen. Schwer verletzt bleibt er auf dem Schlachtfeld liegen.

William Kentridge: „More Sweetly Play the Dance“, animierter Dance macabre auf 6 Videoschirmen. Der Tänzer gegen den Strom ist auf  der mittleren Bildwand zu sehen. © Kentridge Studio / Screenshot von youtubeEine rätselhafte Figur, ein Mann im schwarzen Umhang, möglicherweise ein Johanniter, vielleicht ein Schutzengel oder nur eine Imagination, auf jeden Fall ein Wanderer durch die Zeiten, der Johannes ermuntert und am Leben hält, taucht immer wieder auf. Als Retter holt er Johannes aus dem Leichenberg hervor und bringt ihn ins Lazarett, wo er gesund gepflegt wird. Trompete spielen wird er nicht mehr können, sein „zerfetztes“ Gesicht ist zwar verheilt, doch Johannes bleibt entstellt, die halbe Wange fehlt ihm, mühsam lernt er wieder sprechen. Sein Bruder Franz holt ihn nach Hause, am Dorfplatz von Neustadt an der Mettau (Nové Mêsto nad Metuji) ist er Ziel des Spottes, ein Krüppel, zu nichts mehr tauglich. Doch die Spötter irren sich, Johannes erlernt die Schmiedekunst, wagt sich allmählich wieder an die Öffentlichkeit, unter Leute und kann mit dem Cello auch der Musik Ausdruck verleihen, die in ihm klingt.Ilija Trojanow trifft Brita Steinwendtner in der Alten Schmiede. © Alte Schmiede / youtube Screenshot.

Öffentliche Lesungen können in diesem von Corona beherrschten Jahr nicht stattfinden, doch Steinwendtner besucht ihr Publikum online. Sie ist aus Salzburg, wo sie lebt und wirkt, nach Wien gereist, um ihren Kollegen Ilija Trojanow im Kunstverein Alte Schmiede zu treffen. Mit der üppigen Dekoration aus Metallskulpturen ist der Ort eine Illustration zu den Lebensstationen der Hauptfigur. Verschlägt es doch Johannes, den Schmied, der von seinem Meister in Neustadt wie ein Sohn behandelt wird und auch als Nachfolger vorgesehen ist, weil er nicht nur an der Esse zu arbeiten gelernt hat, sondern auch Werkstatt und Geschäft zu führen versteht, ins österreichische Kernland, an den Rand der Eisenwurzen, nach Oberösterreich, wo die Sensen hergestellt werden. Vom Patron mit Freuden engagiert, doch vom Werkmeister als Fremder skeptisch und widerwillig akzeptiert. Doch Johannes bewährt sich auch dort.„Gefecht zwischen k.k. Husaren und preußischen Kürassieren bei Stresetitz", Ölbild von Alexander von Bensa, 1866. © Wikipedia, gemeinfrei
Mit einer plastischen Metapher beschreibt Trojanow im angeregten Gespräch mit der Autorin Methode und Aufbau des Romans, der bis ins Jahr 1918, dem Ende des Ersten Weltkriegs, reicht:

Der Roman ist ein bisschen wie eine Ziehharmonika, es gibt teilweise ein sehr breites Panorama der sozialpolitischen Geschehnisse in Mitteleuropa, und dann wiederum zieht sich’s zusammen zu einem ganz punktierten, konzentrierten Akkord, der in die Intimität der Hauptfigur Johannes führt.

Mehr muss über den Inhalt und das Leben von Johannes nicht gesagt werden. Johannes ist ein ganz besonderer Lebenskünstler, der nicht aufgibt, sich immer wieder hochrappelt und sich neuen Herausforderungen stellt. Er findet Freunde, die nicht den verunstalteten Loser in ihm sehen, sondern den Menschen, ihm Zuneigung schenken, sodass er sich öffnen kann und auch die Melodie, die er in sich trägt, zu Gehör bringen. Und er lernt auch wieder zu lieben, mit der Seele und auch mit dem Körper. Der wunderschöne Renaissanceplatz von Nové Mêsto, wo die Familie Czermak gelebt hat. © Karelji / WikipediaJohannes lebt trotzdem nicht gegen seine Verletzungen, sondern mit ihnen.
In der Familie Czermak spiegelt sich der Mikrokosmos des zerfallenden Habsburgischen Reiches ab. Karl, der andere Bruder von Johannes, wandelt sich zum Nationalisten, spricht nur noch Tschechisch und nennt sich fortan Karel, Anton, der Sohn von Franz, heiratet eine Italienerin.
Brita Steinwendtner hat ihren Roman in einer Sprache geschrieben, die sich von der heutigen Direktheit, der Überfülle an Modewörtern und Jugendsprache, der Hektik und Oberflächlichkeit nahezu dramatisch unterscheidet. Nobel möchte ich ihren Stil nennen, ein sich verändernder stetiger Fluss mit Mäandern, Wirbeln und Stromschnellen, ruhig dahinfließend und abrupt abstürzend. Screenshot aus  „More Sweetly Play the Dance“, der Videoinstallation von William Kentrige. © youtube / Studio KentridgeDass dieser vielschichtige Roman schön und trotz der erschütternden Passagen angenehm zu lesen ist, soll ihn empfehlen und nicht als altmodisch abstempeln. Zum Glück gibt es keine Regeln, wie ein zeitaktueller Roman zu sein hat, auch wenn solche manche Rezensentinnen gerne aufstellen würden.
Durch den gesamten Roman zieht sich das 1778 entstanden Gedicht von Matthias Claudius. Wenn die Autorin es bei Lesungen zitiert, weiß man, was sie mit ihrem Roman sagen will.

`s ist Krieg! ’s ist Krieg!
O Gottes Engel wehre,
Und rede Du darein!
’s ist leider Krieg – und ich begehre,
Nicht schuld daran zu sein!

Doch der Roman endet im Licht von Venedig, ein Kind ist geboren und die gesamte Familie Czermak versammelt sich. Johannes ist ja in seine Schwägerin Valerie, die Frau von Franz, verliebt, und auch sie scheint sich von ihm angezogen zu fühlen. Der anständige Johannes will nicht in die Ehe seines geliebten Bruders einbrechen. „Schlacht von Königgrätz", Gemälde des Schlachtenmalers Georg Bleibtreu, 1868. © Wikipedia / gemeinfreiAls Valerie verwitwet ist und die Sensenschmiede im Steyertal Waffen herstellt, verlässt Johannes die längst nicht mehr neue Wahlheimat, mir scheint, er wird mit Valerie in Venedig weiterleben. In den Anmerkungen ist zu lesen wie viele Zitate – von H. C. Artmann und Theodor Fontane bis Georg Trakl und Kurt Tucholsky – die Autorin verwendet hat, sie sind so in den Text eingebunden, dass sie nicht als fremd auffallen. Was mir gleich zu Beginn aufgefallen ist und mich auch verzaubert hat, ist Brita Steinwendtners als „Préludes“ verkleidete persönliche Beschreibung der beeindruckenden Videoinstallation von William Kentridge (gezeigt 2017 in der Kentridge-Werkschau „Thick Time“ im Museum der Moderne Salzburg). Wehranlage Schmidtleithenbach, das Wasser wird zum Kühlen der frisch geschmiedeten Sensen benötigt. © Christoph Waghubinger (Lewenstein)/ wikipediaIn diesem von Kentridge gezeichneten und animierten endlos laufenden Totentanz mit dem Titel „More Sweetly Play the Dance“ taucht auch eine Gestalt im langen, weiten Gewand auf und „tanzt in wilden Drehungen gegen den Strom“ der Tänzer und Musiker, der Riesen und Zwerge, der Verletzen und Gesunden, der Revolutionäre und Mitläufer. Die durch den Roman tanzende Gestalt könnte Kentridges Figur nachempfunden sein.

Eine Gestalt taucht am rechten Bildrand auf, sie ist in ein langes, weites Gewand gehüllt, der Mann tanzt in wilden Drehungen gegen den Storm, gegen die Erwartung, tanzt und wirbelt über die Bildfläche und verschwindet als Ahnung dessen, was bevorsteht.

Der Mann, der am Ende der Schlacht bei Königgrätz in langem schwarzem Gewand über das Schlachtfeld geht und nach Überlebenden sucht, ahnt auch, was bevorsteht, doch er ist nicht der Tod, sondern das Leben, das Weiterleben. Im 1. Weltkrieg wurden aus vielen Sensenschmieden Waffenfabriken. Im Bild: Gebäde der Waffenfabrik im Wehrgraben um 1890. © Weishaupt Vrlag / WikipediaWie Steinwendtners Roman ein Friedensroman ist, so stehen für sie auch die Sensen für den Frieden: „Der Tod hat keine Sense“ sagt sie im Gespräch mit Trojanow und führt auch ihren Johannes zu einem Totentanz, der nicht vom Sensenmann angeführt wird. Zuletzt erinnere ich noch an den realen Musiker Paul Wittgenstein, einen der auch trotzdem weitergelebt und sich der Kunst gewidmet hat. Der ältere Bruder des Philosophen Ludwig Wittgenstein wurde im 1. Weltkrieg verwundet, „Gesicht im blinden Spiegel", Cover. © Otto Müller Verlagder rechte Arm musste amputiert werden. Wittgenstein kehrte nach der Genesung in den Dienst zurück und widmete sich nach Ende des Krieges wieder dem Klavierspiel. Er beauftragte viele zeitgenössische Komponisten, ihm Klavierkonzerte für die linke Hand zu schreiben. Am bekanntesten ist wohl das Concerto für die linke Hand von Maurice Ravel. Wittgenstein ist nach dem Anschluss nach Amerika emigriert und hat die amerikanische Staatsbürgerschaft angenommen. Er ist 1961 mit 74 Jahren gestorben. Johhannes hat, nehme ich an, noch ein langes, glückliches Leben mit Valerie vor sich.

Brita Steinwendtner: „Gesicht im blinden Spiegel“, Roman, Otto Müller, 2020. 380 S. € 25,00. E-Boock: € 20,00.
Lesung und Gespräch in der Alten Schmiede am 23. November 2020. Brita Steinwendtner mit Ilija Trojanow.
Bis zum 18. April zeigen die Deichtor Hallen in Hamburg die William Kentridge Ausstellung: „Why Should I Hesitate: Putting Drawings to Work“, wo auch die genannte Videoinstallation zu sehen ist.