Ali Smith: „Winter“, Jahreszeitenquartett 2
Auf den Herbst folgt der Winter. Das ist bei Ali Smith nicht anders. Sie hat ihr Jahreszeitenquartett mit „Herbst“ begonnen und setzt es mit dem Winter fort. Wie alle Romane und Geschichten der schottischen Linguistin ist auch „Winter“ mit mehr als einem doppelten Boden versehen, ist surrealistisch und komisch, ausufernd, rückblickend, vorausblickend und brandaktuell, politisch, literarisch, fantastisch und realistisch zugleich.
Kurz gesagt: Wieder ein wunderbares Buch von Ali Smith, das jede aus der eigenen Perspektive lesen darf.
Schwierig. Wo kann ich beginnen und wie ans Ende kommen, ohne mich zu verirren? Von Ali Smiths ungewöhnlicher Erzählkunst kann ich nur schwärmen. Doch es muss auch vom 2. Satz des literarischen Jahreszeitenquartetts erzählt werden. Schwierig. So viel gibt es zu sagen.
Am einfachsten ist, ich fange, wie auch Ali Smith es tut, mit dem Anfang an: „Gott war tot: das gleich vorweg.“ Aber nicht er allein, auch „Romantik war tot. Ritterlichkeit war tot. Poesie, der Roman, Malerei, sie waren alle tot, und Kunst war tot.“ Was noch alles bereits tot war, bis die Seite mit „Die Liebe war tot. Der Tod war tot. Sehr vieles war tot.“ beendet ist, gibt Diskussionsstoff für einige finstere Dezemberabende – bevor „Weihnachten wie immer“ unter zu viel Alkohol und Streitereien versinkt, während der Rest der Gäste in Thailand oder auf den Seychellen sich am Strand verlustiert, was in diesem Jahr nicht möglich ist, so bleiben die Versprechungen leer, weil die Versprecher und Behaupter einen Mythos weitertragen und von der Realität keine Ahnung haben. Wenn Smith wirklich ernst damit ist, dass alles tot ist, was vielen wertvoll ist, was machen wir dann noch hier? Dass Poesie und der Roman und so viele tot sind, führt sie gleich als Schwindel, Lüge oder Fake vor. Für sie ist die Welt noch nicht am Untergehen, Mythos ist nicht tot, Romantik, Ritterlichkeit (Chivalry) und Poesie sind nicht tot. Allerdings herrscht für Ali Smith in diesem Winter im Jahr 2017 (Erscheinungsjahr der Originalausgabe) „des Winters grimmiger Hohn“. Neben anderen Zitaten stellt Smith auch eines aus William Shakespeares Drama „Cymbeline“ voran, doch sie lässt vorläufig die erste tröstliche Zeile des Grabgesangs aus dem 4. Akt weg: „Fürchte nicht mehr Sonnenglut / Noch des Winters grimmen Hohn! / …“
Ali Smith erzählt niemals chronologisch, nicht auf geraden Wegen strebt sie dem Ende zu, sondern malt breite Flächen in bunten Farben, verlässt die Gegenwart, um die Leserin in die Vergangenheit zu ziehen, die Realität ns Reich der Fantasie abzugleiten. Die Natur ist ihr ebenso ein Anliegen wie die bildende Kunst und Literatur, diesmal ist Charles Dickens, passend mit „A Christmas Charol / Eine Weihnachtsgeschichte“, der Spiritus Rector, doch nicht allein, noch wichtiger ist Shakespeare und das Drama von Lügen, Wahnsinn und Chaos über König Cymbeline und seine unglückliche Tochter Imogen.
Vier Personen treffen einander zu Weihnachten im Haus von Sophie. Unvorhergesehen kommt ihr Sohn Arthur, „weil es sich so gehört“. Er bringt Charlotte, seine Freundin, mit. Glaubt Mutter Sophie. Doch Charlotte hat Arthur – gleich schleicht sich Artus ein, die wichtigste Figur britischer Mythologie und in ganz Europa bekannt – verlassen, postet Unsinn auf seinem Blog „Art in Nature“. Art, so wird er gerufen, stört das nicht, er hat in einer Bushaltestelle eine junge Immigrantin aus Osteuropa aufgegabelt, die Charlotte spielen soll, damit ihn seine Mutter nicht mit Fragen nervt.
Sophie hat zurzeit andere Sorgen, sie wird von einem Kinderkopf besucht, der um sie schwebt. Sie sperrt den Geisterkopf aus, doch das Kind, also der Kopf des Kindes, klopft ans Fenster, begehrt Einlass. In der Nacht liegt er neben ihr, doch mit der Zeit schrumpft er und verschwindet. Auch Art hat Halluzinationen, über seinem Kopf spürt er einen Küstenstreifen, der langsam heruntersinkt. Erschlagen wird er nicht, die Halluzination verschwindet wie der sonderbare Besuch bei Sophie. Sophie hat nichts im Haus, nicht nur nichts, was nach Weihnachten schmeckt, überhaupt nichts, die 15 Zimmer stehen so leer wie der Kühlschrank. Rettung kommt mit der Halbschwester, Iris, die kennt die Jüngere, obwohl die beiden jahrzehntelang keinen Kontakt gehabt haben. Überraschend reist Iris an, das Auto voller Speis und Trank. Sie spielt den Weihnachtsmann. Art, Sophie und Iris sind eine Familie, doch beileibe keine heilige. Unterschiedlicher als Sophie und Iris können Schwestern nicht sein. Iris erträumt eine bessere Welt und ist auch bereit, etwas dafür zu tun; Sophie sieht die Welt aus ihrer Höhle und wie sie sich vorstellt und meint, dass sie den richtigen Blick hat. Der Streit der beiden ist uralt und hat wenig Variationen, und weil jeder Mensch eine andere Wirklichkeit hat, gibt es die Wirklichkeit ja nicht, so sind auch die Erinnerungen von Iris und Sophie nur Geschichten, zurechtgebastelter Mythos. Sie lügen nicht, sie erzählen ihre Wahrheit. Und dann singen sie gemeinsam, zweistimmig in mehreren Sprachen.
Lux, so nennt sich das Mädchen von der Bushaltestelle – sie bekommt 1000 £ für ihren Auftritt als Charlotte – kennt keine Tradition und keine Konventionen, sie benimmt sich keinesfalls comme il faut, doch sie liest Shakespeare, und sie ist es, die Art das hoffnungsvolle Ende von „Cymbeline“ erklärt. Das Chaos weicht der Ordnung, die Welt löst sich noch nicht auf. Im letzten Kapitel ist es Sommer. Wie schon im ersten Band, „Herbst“, beschäftigt sich die Autorin mit dem Brexit. Nochmals sei’s gesagt: Sie ist Schottin und wollte wie die Mehrheit Schottlands in der EU bleiben. Sie betrachtet die Migrationswelle, die Atomkraft und die Proteste dagegen, erinnert sich an Charlie Chaplin und Elvis Presley, liebt die Kunst und die Künste und vor allem die Literatur. Niemals legt sie sich fest, es ist immer das eine möglich und das andere auch. Manchmal möchte ich der konservativen, etablierten Sophie recht geben, doch besser gefällt mir im Grunde alles, was die unkonventionelle, mutige und emphatische Iris zu sagen hat. Wenn Sophie in der Diskussion über „die sogenannte Abstimmung" sagt, dass darüber abgestimmt worden sei, dass „Schluss damit sein muss, unserem Land die Probleme anderer Länder aufzubürden“, dann antwortet Iris ganz lakonisch: „… je nachdem ob man glaubt, es gäbe ein Die und Wir oder nur ein Wir.“
Ali Smith ist witzig und klug, gebildet und voll Liebe zur Natur. Mit Ironie beschreibt sie dieses Weihnachten im leeren Haus von Sophie und sieht die Welt, das Ärgerliche, Überflüssige, das Angenehme und Nützliche mit ganz neuen Augen. Neu Ist der Blich nur für die Leserin, nicht für Ali Smith. In jedem Buch wagt sie Seiten- und Rückwärtsschritte, stellt überraschend Verbindungen her die nur sie sieht und verlässt sich auf die Assoziationskraft ihrer Leserinnen. Ihre Schreiblust lässt nicht nach, Fakten, Bilder, Metaphern und Fantasien sind ein fast reißender Strom. Auch „Spring“ und „Summer“ sind bereits erschienen, und wenn die beiden Bände übersetzt sind, werden wir auch die Frühlingslüfte spüren und erfahren, was Ali Smith über Corona denkt. Noch aber sind wir lesend im Winter 2017 und die Erzählerin denkt an den vergangenen Sommer und einen Präsidenten auf dem anderen Kontinent und empört sich – wirklich Ali Smith kann auch empört sein – über dessen Lügengebrabbel und seine Scheinheiligkeit, mit der er dem Volk „Frohe Weihnachten“ verspricht. Da klingen doch einige Glocken in heimischen Ohren. Der Präsident drüben ist zwar 2020 bereits im Status Abeundi, dafür wird hüben, diesseits des Ozeans, der Schwindel (ein gnädiger Ausdruck, wo eigentlich Lüge stehen sollte) von fröhlichen, kuscheligen, schönen „Weihnachten wie immer“ vorgebetet.
Ich schließe mit Ali Smith, die zu Trump in seinem ersten Sommer nur noch seufzen kann: “Mitten im Sommer ist es Winter. Weiße Weihnachten.
Gott steh uns bei, uns allen.
Art in Nature.“
Ali Smith: „Winter“, aus dem Englischen von Silvia Morawetz, Luchterhand, 2020. 320 S. € 22,70. E-Book: 17,99.