Rolf Lappert: „Leben ist ein unregelmäßiges Verb“
Schon der Titel irritiert mich. Was soll das heißen: „Leben ist ein unregelmäßiges Verb"? „Leben“ ist kein Verb, und „leben“ kein unregelmäßiges. Also: purer Manierismus, der Sinn wird einem schönen (?) Titel geopfert. Auch das Gewicht des neuen Romans des Schweizer Autors Rolf Lappert ist nicht gerade einladend: An die tausend Seiten, das wiegt. Aber hat es auch was?
Lappert erzählt die Geschichte von vier erdachten Kindern, die in den 1970er Jahren in einer patriarchalisch organisierten Landkommune Nirgendwo von Niedersachsen aufgewachsen sind. Als diese aufgelöst worden ist und die „Alten“ vor Gericht zitiert worden sind, waren Ringo, Leander, Linus und Frida (später Frieda geschrieben) zwischen 12 und 15 Jahre alt. Sie kannten weder Vater noch Mutter, waren von der Welt abgeschottet, gingen nicht zur Schule, doch wurde ihnen von einem der Alten, Konrad, täglich aus Werken der Weltliteratur vorgelesen. Ihr Weltbild war von Charles Dickens und Herman Melville geprägt, die Welt draußen, so haben sie gelernt, ist böse und schlecht. Obwohl ihr Leben aus Arbeiten, Essen, Schlafen und Gehorchen bestanden hat, fühlten sich die vier Heranwachsenden wohl in der sektenartigen Gemeinschaft. Sie kannten nichts anderes. Am Sonntag hatten sie Zeit, im Wald zu spielen. Auch da werden sie bewacht, die Grenzen von Winnipeg, so wird der fiktive Ort von den Kindern genannt, dürfen nicht überschritten werden. Sie schreiben eine Art von Tagebuch, das als „Logbuch“ in Auszügen im Roman wiedergegeben wird. Darin sind solche Sätze zu lesen, wie „Wir sind Gefäße, die sich langsam füllen“, auf die Belehrungen und die Lektüre bezogen. Haben Dickens und Kollegen diese jungen Poeten auf dem Gewissen?
Dann wird auch diese Kommune aufgelöst, die Kinder werden aus dem erlernten Leben gerissen, kommen zu Pflegeeltern oder zu fernen Verwandten, die nicht nur Freude mit ihnen haben. Frida etwa kommt zu den verknöcherten Großeltern, die Mutter ihrer Mutter verlangt, dass das Kind sie siezt. Wie sie mit dem Leben fern vom Paradies, als das ihnen Winnipeg erscheint, zurechtkommen, ist ganz unterschiedlich, aber alle vier haben es nicht leicht. Leicht hat es auch die Leserin nicht, werden doch die Kinder nicht in einem Guss verfolgt, sondern immer abwechselnd, kaum hat man sich mit einem der Buben oder mit Frida, die mir die liebste des zerrissenen Quartetts ist, angefreundet, wechselt der Autor zum nächsten. In Zeitsprüngen wird das Schicksal von Ringo, Leander, Linus und Frida (sie will das e in ihrem Namen nicht, sie will Frida bleiben) bis sie um die 50 sind, geschildert. Und tatsächlich, die Welt außerhalb von Winnipeg ist böse und schlecht, versteht die Kinder nicht, nimmt keine Rücksicht, will sie biegen und brechen.
Wären sie nicht schon längst gebrochen, denn die Realität einer solchen Kommune, wie sie in den 1970ern wie Schwammerl aus dem Boden gesprossen sind, ist eine ganz andere.
Von Österreich aus, wo der später zu Gefängnis verurteilte Gründer Otto Mühl die AA-Kommune regierte, hat sich die Aktionsanalytische Organisation genannte Kommune auch in Deutschland verbreitet und später auch andere Kommunen inspiriert. Auflösung der Kleinfamilie, freie Sexualität (auch mit Kindern), eine strenge hierarchische Ordnung, Gehorsam und Abschaffung des Privateigentums. Kein Wunder, dass sich nicht nur für die in der Organisation geborenen Kinder, auch für die Erwachsenen – es waren intelligente, gebildete Menschen, die dem Guru Mühl verfallen waren und sämtliche Abstrusitäten und Verbrechen mitmachten – nicht leicht war, sich wieder in das Leben außerhalb dieser abgeschlossenen Welt einzugliedern.
Lappert schildert die Landkommune im „Kampstedter Bruch“ als Paradies, nach dem sich alle vier Kinder und später Herangewachsenen, zurücksehnen. Der Dokumentarfilm, „Meine kleine Familie, 2012, von Paul-Julien Robert über Mühls Kommune, in die er selbst hineingeboren worden ist, zeigt einfühlsam, aber deutlich, dass viele Kinder dort andere Paradies-Vorstellung gehabt haben, als ihnen eingeredet worden ist. Dennoch, auch Paul-Julien Robert hat wie viele andere unter den Nachwirkungen auch als Erwachsener noch zu leiden.
Von oben betrachtet, erinnert Lapperts episches Werk an die Entwicklungs- oder Bildungsromane des 19. Jahrhunderts. Dazu hätte es aber der Herkunft aus der doch ziemlich obskuren Kommune nicht bedurft und auch nicht der vielen Nebenpersonen, deren Verwandtschaft Lappert oft bis ins dritte Glied erzählt, die er auftreten und ebenso plötzlich wieder verschwinden lässt. So verliert die Leserin dauernd den Faden und weiß nicht mehr, wo und mit wem sie sich gerade befindet. Dass es schon dem Neugeborenen schwerfällt, den Wechsel vom beschützen Heranwachsen in der Gebärmutter ins kalte, ungeschützte Leben außerhalb zu verkraften, ist bekannt. Dass Kindern eingeredet wird, mit dem Schulbeginn würden sie aus einem Paradies vertrieben, denn „jetzt beginnt der Ernst des Lebens“, weiß man auch. Daher kann vielen das Zurechtfinden in der Welt, das Fallen aus dem Nest so schwerfallen, ob in der Landkommune oder in der Zweierfamilie aufgewachsen.
Wirklich zurecht kommt mit dem neuen Leben schließlich nur Linus, der von den Alten Anton genannt wird, aber sich im Geheimen, wenn die Kinder ganz unter sich sind, Linus nennt. Nach einer Zeichnung auf einem Stück gefundenem Papier. Die Bedeutung dieses einzelnen Comicstreifens können sie nicht enträtseln. Von den Peanuts, die der 2000 verstorbene amerikanische Zeichner Charles M. Schulz Kindern und Erwachsenen geschenkt hat, haben die Kinder in Winnipeg keine Ahnung. Linus hat sich aus der Welt hinauskatapultiert und eine Ort gefunden, wo er unerkannt, nicht mehr belästigt von sensationsgierigen Medienknechten, ein Leben nach seinem Geschmack führen kann. Von ihm erfahren die Leserinnen am wenigsten.
Auch wenn man den ausufernden, verzweigten Roman als Metapher für das Leben an sich begreift, kann er mich nicht wirklich befriedigen. Würden ein paar Zweige von diesem epischen Gewächs abgeschnitten und auf dieses pseudolyrische Logbuch verzichtet, das niemals von isoliert heranwachsenden Kindern stammen kann, auch wenn die Abenteuer des Robinson Crusoe und Tom Sawyer Ihr Sprachvermögen, aber nicht ihr Weltbild formen, wäre das Monsterwerk konzentrierter und leichter verdauich.
Wir wissen nichts von der Welt, wir sind dünnhäutige Tiere, wir sind fiebrige Pferde und aufgeregte Ziegen, wir sind wirbelnde Vögel, die uns von oben sehen. Wir sind ruhelose Hofhunde, die an der Kette zerren und winseln, weil der Mond auf die Erde stürzt.
Lyrismen, die den Autor auch als Poeten ausweisen. Irgendwie scheint dieser jüngste Roman mit dem manierierten Titel ein Nachfolger von Lapperts Roman Nr. 5, „Nach Hause schwimmen“, zu sein. Auch in dieser Geschichte geht es um ein Kinderschicksal, allerdings mit umgekehrter Prämisse: Der Waisenknabe Wilbur erlebt eine schmerzhafte Odyssee durch Kinderheime und Pflegestationen, bis er eine richtige Heimat findet und weiß, wer er ist. Der 2008 erschienene Roman riss einen Resebzenten der deutschen Tageszeitung „Die Welt“ sogar zu einem Vergleich Lapperts mit John Irving hin, Vergleiche sind halt fatal. Einer von beiden, das Objekt oder das Subjekt, ist immer beleidigt. Autor Lappert ist sicher nicht beleidigt, die Geschichte von Wilburg wird zu sienem bisher größten Erfolg. Das Rezept hat sich gelohnt, das „unregelmäßige Verb“ ist ähnlich gestrickt, nur sind Witz und Ironie, die Wilburs trauriges Schicksal für die Leserin etwas vergolden, so gut versteckt, dass sie nur bei genauem Suchen zu finden sind. Doch sie sind vorhanden und bringen Freude in die Lektüre, die zusehends weniger Vergnügen bereitet und dem berühmten Strudelteig immer ähnlicher wird.
Zur Erholung von lyrischer Epik samt poetischen Manierismen empfehle ich die Lektüre von Paulus Hochgatterers hervorragenden, auch verstörendem Romanen (Hanser Literaturverlage: Deuticke im Zsolnay Verlag), die das Denken, Fühlen, Leiden und Träumen von Kindern zum Mittelpunkt haben. Sprachlich und stilistisch muss der Primar der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie im Universitätsklinikum Tulln keinen Vergleich scheuen, die Kinder seiner Erzählungen und Romane, ihre Verletzungen und Schmerzen muss er sich nicht zusammenreimen, er kennt sie in allen Facetten. Damit kein Irrtum entsteht: Der Autor Hochgatterer veröffentlich keine Protokolle des Psychiaters Hochgatterer, sondern schreibt wunderbare Romane ohne ein einziges überflüssiges Wort, die Doppelbegabung als Arzt und Autor macht‘s möglich. Hochgatterer ist keiner, der sich selbst inszenieren muss, dennoch ist die Liste der ihm verliehenen Preis lang: Österreichischer Staatspreis, Literaturpreis der Europäischen Union, Österreichischer Kunstpreis für Literatur et cetera …
Rolf Lappert mit Ágota Kristóff („Das Große Heft", Piper TB), die mir zum Thema Verzicht auf Geschwätzigkeit einfällt und ebenfalls einen Roman über das Erwachsenwerden geschrieben hat, zu vergleichen, erspare ich mir und den Leserinnen. Sie mögen sich selbst ein Urteil bilden.
Rolf Lappert: „Leben ist ein unregelmäßiges Verb“, Roman, Hanser, 2020, 2. Auflage. 992 S. € 32,90. E-Book: € 25,99.