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Oliver Hilmes: „Das Verschwinden des Dr. Mühe“

Autor Oliver Hilmes. © Maximilian Lautenschläger

Oliver Hilmes, Historiker und Autor, hat bei den Recherchen für sein Buch „Berlin 1936“ über die Olympischen Spiele in Berlin auch einen Akt entdeckt, die sich mit einer Vermisstenmeldung von 1932 beschäftigt. Der Berliner praktische Arzt Erich Mühe, 34, ist nach einem Telefonat aus dem Haus in der Oranienstraße / Kreuzberg gestürmt und nicht wieder aufgetaucht. Jahrelang hat die Polizei nach ihm gesucht. Jetzt hat Hilmes die Suche wieder aufgenommen.

Berlin Alexanderplatz. © digitalimages, Sammlung Berliner Verlag ArchivHilmes führt die Leserinnen mitten hinein ins Berlin der 1930er Jahre. Die Arbeitslosigkeit steigt, der Hunger auch, der Boden für die Machtergreifung Hitlers ist bereitet. Beauftragt mit dem Fall, der möglicherweise ein Kriminalfall ist, doch Leiche wurde keine gefunden, ist Kommissar Ernst Keller, der den Fall bis zu seiner Pensionierung jahrelang verfolgt. Einen ersten Hinweis auf den Verbleib des Dr. Mühe gibt der Wirt eines Ausflugslokals am Sacrower See bei Potsdam. Mühes Auto steht dort seit Tagen, der Schlüssel steckt, vom Halter keine Spur. So bleibt es auch, je mehr Zeugen Keller befragt, desto sonderbarer wird die Geschichte, schließlich weiß er nicht mehr, ob Mühe ein Täter oder ein Opfer ist. Die Leserinnen werden es auch nicht erfahren, weil auch der Autor keine Lösung gefunden hat, der Fall Mühe ist ein „Cold Case“ mitten in „Babylon Berlin“ – doch ist das Buch (ich könnte auch sagen, das Protokoll einer Suche) spannender und sachlicher als jede Fernsehserie. Volker Bruch ist Kommissar Gereon Rath in "Babylon Berlin". © Frederic Batier X Filme Sky
Keller befragt nicht nur die Ehefrau und das Hausmädchen, auch den Gesangslehrer der Charlotte Mühe, einen Hugo Rasch, der sich später zum Präsidialrat der Reichsmusikkammer hochgeschleimt hat, mit dem Charlotte anscheinend ein Verhältnis hatte. Ehemann Erich hat viel zu tun, macht oft auch noch spät abends Hausbesuche, er ist froh, das seine Gattin mit den Gesangsstunden oder Hugo R. beschäftigt ist. Er befragt auch Patientinnen, Zeugen, die sich gemeldet haben, den Steuerberater Mühes, Nachbarn und Kollegen des Arztes – quasi jede und jeden, denen der Name Mühe bekannt ist.
Der Sacrower See, wo Mühes Auto gefunden worden ist, heute. ©  Dreizung / Wiki / free licenseDie Spur führt bis Barcelona und endet auch dort, genau überall sonst im Nichts.
Hilmes schreibt in der Gegenwart, als unsichtbarer Begleiter des Kommissars. Er hat intensiv recherchiert, kennt nicht nur die Aktenlage im Fall Mühe, sondern auch das Wetter an den Tagen seines Protokolls, die Speisekarten der Lokale, in denen Mühe verkehrt hat und die Straßenbahnlinien, die 1932 den Alexanderplatz befahren haben. Für die Nicht-Berlinerin ist es ein spannendes Spiel, alte Fotos anzusehen, die Straßen zu suchen, "Das Verschwinden des Dr. Mühe", Buchcover. © Penguin Verlagin denen die Hauptperson und die Zeug*innen gewohnt haben. „Das Verschwinden des Dr. Mühe“ ist keineswegs eine langweilige Aufzählung von Fakten, sondern ein überaus anregender Roman, für den Hilmes seine Recherchen mit Einfallsreichtum ergänzt hat.
Es hat wohl niemand erwartet, dass ein gerade mal 40jähriger Autor einen Fall aufklären wird, der seit beinahe 90 Jahren als uner"Berlin 1936", Buchcover. © Siedler Verlagledigt in den Archiven ruht, doch vermindert diese Tatsache nicht im Mindestens den Sog, den Hilmes Bericht – pro Kapitel wird ein Zeuge, eine Zeugin befragt, manche, wie Keller es getan hat, mehrfach – ausübt. Schon in „Berlin 1936“, ähnlich aufgebaut wie der Roman, hat Hilmes bewiesen, dass er die Vergangenheit mit Hilfe von Zeitzeugen und erfundenen, höchst lebendigen Personen, zum Leben erwecken kann und für die Leserin zur Gegenwart werden lässt.

Oliver Hilmes:
„Das Verschwinden des Dr. Mühe“, Eine Kriminalgeschichte aus dem Berlin der 30er Jahre. Penguin Verlag, 2020. 240S. € 20,60. E-Book: € 16,99.
„Berlin 1936“, Sechzehn Tage im August. Siedler, 2016, 6. Auflage, illustriert. 304 S € 20,60.
E-Book: € 9,99. TB: Penguin, 2017. € 10,30.