Lukas Linder: „Der Unvollendete“, Roman
Anatol Fern, ein verhinderter Schriftsteller, der keine Ziele hat, sich nach Erfolg und auch nach der Liebe sehnt, aber sich lieber in Spinnereien verrennt, als zu handeln. Als Student hat er brilliert, doch er macht nichts aus seinen Talenten, schuftet als Pfleger im Altersheim Abendstern oder Abendruh, wie es später genannt wird. Der zweite Roman von Lukas Linder, „Der Unvollendete“, ist mäßig amüsante Gebrauchsware.
Mit dem Debütroman hat Anatol kaum Erfolg gehabt, „Graues Brot“ wollte niemand kaufen. So verbringt er seine Tage als Animateur im Altersheim. Genau dort wird ihm die Gelegenheit für eine Sternstunde geboten. Doch, wie immer, kann er seine Chance nicht nützen. Auf den Höhenflug folgt wieder das graue Brot des harten Alltags. Verschafft hat ihm dieses Erlebnis Gustav Gustav, 98. Der ehemalige Wissenschaftler ist so komisch wie sein Name und außerdem ohne Verstand, den hat er verloren. Im Altersheim regiert er vom Bett aus und arbeitet an der Fertigstellung seiner Theorien über das Netzwerk der Pilze. Er hält das Werk für bahnbrechend, überprüfen kann das niemand, weil niemand Gustav Gustavs krause Gedanken nachvollziehen kann. Als er vom Mykologen-Kongress in Lodz erfährt, bittet er Anatol inständig, als sein Assistent das Manuskript den Kollegen in Lodz vorzutragen und auch gleich die Gratulationen der verblüfften Kongress-Teilnehmer einzuheimsen.
Weil sich Anatols Träume von einem Stipendium in New York nicht verwirklichen lassen, gelingt es Herrn Gustav, Anatols Widerstand zu brechen. Anatol fährt nach Lodz. Wider Erwarten erlebt er dort seine Sternstunde. Er liest den zusammenhanglosen Text, den weder das Publikum noch er selbst versteht. Gustav Gustav hat über das unsichtbare Netzwerk der Pilze geforscht, dementsprechend hat er, ganz up-to-date, seine Erkenntnisse „Das Facebook der Pilze“ genannt. Zu Anatols Überraschung wird er nicht ausgepfiffen, sondern erntet heftigen Applaus und fröhliches Gelächter. Das macht ihn stolz und selbstbewusst, sodass er für kurze Zeit aufgibt, unsichtbar zu sein und zum brillanten Alleinunterhalter wird.
Für mehr als einen Abend reicht das nicht, doch er beschließt, dass fürderhin Pilze sein Leben begleiten sollen. Das Thema seines nächsten Romans, dessen Abgabetermin beängstigend näher rückt, steht fest. Anatol erwartet den Durchbruch als Schriftsteller mit dem Schwammerlroman. Beflügelt werden seine Pläne durch die fröhliche Jola. Schon in seiner Sternstunde nach dem Vortrag über das Kommunikationssystem der Pilze ist sie ihm aufgefallen, doch sie ist keine Mykologin, sondern Technikern. Dass er, nachdem er sie bereits zur Frau seines Lebens erkoren hat, von ihrer glücklichen Ehre und den beiden Kindern erfährt, ändert nichts an seinen Plänen, in Lodz zu bleiben und an seinem Meisterwerk zu schreiben, indem er Zettel mit Unleserlichem bekritzelt.Gustav Gustav, ´eine viel interessante Person als dieser träge und ziellos durch die Welt taumelnde Anatol, ist gestorben, Anatol haust in einem schäbigen Hotelzimmer neben der Universität von Lodz, geht manchmal mit Jola durch den Wald, er will vielleicht Priester werden oder aus dem Fenster springen, tut es doch nicht, und der Leserin fallen die Augen zu.
Ein kurzer Besuch in seiner Schweizer Heimat ändert nichts daran, weder an Anatols Herumhängen noch an der Leserin Müdigkeit. Wie lustig war das damals, als Vicky Leandros schmetterte: „ Theo, wir fahr’n nach Lodz“. Anatol Fern wollte sie sicher nicht besuchen. Der Autor, Lukas Linder, wiederum kennt weder Theo noch Vicky, weil er damals als der Aufruf zum ersten Mal gehört werden konnte, noch gar nicht geboren war. Inzwischen hat er sich zu einem in der Schweiz recht bekannten Theaterautor ausgewachsen und den zweiten Roman herausgebracht. Der ist ganz nett zu lesen, aber mangels Anatols Elan habe ich den meinen auch verloren. Aber In Lodz kennt sich Lukas Linder gut aus, er lebt zum Teil in der polnischen Stadt. Und in Wien war er sicher auch schon, vielleicht, als seine Komödie „Ich war nie da“ 2013 im Schauspielhaus uraufgeführt worden ist. Das Echo der Wiener Kritiker*innen war ähnlich lau. Auch durch der Lektüre von Linders Roman sind keinerlei Nebenwirkung zu befürchten, er ist so grau wie Anatols Hotelzimmer In Lodz und sein Leben.
Am Ende erscheint ihm sein Schatten im Nebel – und löst sich wieder im Nichts auf. Anatol ist dem Brockengespenst begegnet. Ob er jetzt endlich zu leben beginnt, bleibt nebulös.
Lukas Linder: „Der Unvollendete“, Kein & Aber, 2020. 288 S. € 22,70. E-Book: € 17,99.