Ambrose Parry.: „Die Tinktur des Todes“, Krimi
Unter dem Pseudonym Ambrose Parry hat das Ehepaar Christopher Brookmyre und Marisa Haetzman gemeinsam einen viktorianischen Kriminalroman geschrieben. Er ist der Autor, sie eine Anästhesistin, daher ist es nicht verwunderlich, dass „Die Tinktur des Todes“ – im Original „A Way of All Flesh“ („Der Weg allen Fleisches“) – von Äther und Chloroform durchtränkt ist und auch von Blut und Leichengeruch dampft. Die Tinktur aus Mord und Medizin wird in Edinburgh in den 1870er Jahren angewendet, versetzt in schmerzfreien Schlaf, oder gleich ins Grab.
Edinburgh galt unter Königin Victoria als Hochburg der Medizin, voll von Ärzten, an die man sich heute noch erinnert, und so ist ein Großteil der Personen auf Wikipedia zu finden. Auch einer der Protagonisten des Romans, der praktische Arzt und Geburtshelfer James Young Simpson, ist historisch. Er lebte bis 1870 in Edinburgh, doch Autor Brookmyre hat sein Leben etwas verlängert. Sein Famulus, der angehende Arzt Will Raven, der unversehens zum Detektiv wird und seine Mitdetektivin, Sarah Fisher, Mädchen für alles im Haushalt der Simpsons und begeisterte Helferin in der Ordination, sind erfunden. Will, der selbst allerhand Geheimnisse hütet, kann nicht verkraften, dass er vom Totenbett seiner Freundin und Geliebten, des Freudenmädchens Evie, die von Krämpfen geschüttelt gestorben ist, geflohen ist, das beschwert sein Gewissen. Als ein anderes Mädchen in starren Verrenkungen im Hafen gefunden wird, ahnt die Leserin bereits, worum es auch geht. Wie in John Irvings Roman „Gottes Werk und Teufels Beitrag“, leisten Geburtshelfer auch Hilfe bei einer Abtreibung des Fötus. Viele aus Mitleid, manche aus Geldgier. Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, als in Europa der Schwangerschaftsabbruch durch eine Fristenregelung sukzessive liberalisiert wurde, war das Phänomen, dass Ärzte ihren Eid brachen, indem sie Leben beendeten anstatt es zu erhalten, weit verbreitet. Sehr oft wurde auch das Leben der werdenden Mutter gleich mit beendet.
Damals in Edinburg starben nicht nur Huren und arme Hausmädchen diesen schmerzhaften Tod, der möglicherweise durch das auch als Rauschmittel angewandte Gift Strychnin verursacht worden ist, auch Damen der Gesellschaft mussten sich von skrupellosen Ärzten oder auch den sogenannen Engelmacherinnen helfen lassen. Sarah und Raven wollen den / die Mörder finden und haben eine erste Spur in einer in einer Kaschemme, wo eine Madame Anchou in einem Hinterzimmer Frauen aus allen Kreisen empfängt. Sie müssen in ärztlichen Protokollen wühlen, einbrechen und stehlen und dazu immer wieder über die Brücke aus der sauberen New Town in die schmutzige Old Town gehen. Für Will Raven nicht nur unangenehm, sondern auch angstbesetzt, wird er doch von zwei üblen Kerlen verfolgt, Schuldeneintreiber ohne Skrupel. Das Geld hat er sich geliehen, um Evie aus der Patsche zu helfen. Jetzt ist das Geld futsch und Evie ist tot. Doch die Verfolger geben nicht auf, erhalten sie doch einen Anteil an den mit Gewalt eingetriebenen Schulden.
Will Raven ist quasi die Inkarnation der Stadt Edinburgh, die als Stadt mit zwei Gesichtern dargestellt wird. Das Öffentliche und das Private sind streng getrennt. Die beiden Hälften Old Town und New Town symbolisieren den Zustand der Gesellschaft, der feinen Bürger*innen hier und die am Hungertuch nagenden Bürgerinnen dort. Wie die Stadt hat auch Raven zwei Gesichter. Doch er ist nicht der einzige, der ein geheimes Leben führt, Ärzte, Priester – diese mächtigen Herrn der Freikirche verbieten die Narkose als nicht von Gott gewollt – selbst der soziale, nahezu gütige Dr. Simpson hat einiges zu verbergen. Hochanständig und hilfreich – skrupellos und kaltblütig – so ist Edinburgh.
Einzig die tapfere und wissbegierige Sarah ist sauber und durchsichtig. So sympathisch das Mädchen ist, so unglaubwürdig seine Charakterisierung. Sie liest die damals modernen Romane und auch medizinische Lehrbücher, falls sie Zeit findet, und träumt davon, Ärztin zu werden. Das gefällt mir natürlich, doch ob ein schottisches Hausmädchen um 1870 tatsächlich solche Gedanken gehegt hat, wage ich doch zu bezweifeln.
Die Wege, die Simpson samt Hund mit der Kutsche fährt und Raven meistens durchrast, sind genauestens geschildert, und auch die beschriebenen Eingriffe, die Vorlesungen und Debatten der Ärzte miteinander und gegeneinander zeugen von der akribischen Recherchearbeit des Ehepaares Brookmyre und Haetzman. Ein guter Grund, sich den Schmöker zu Gemüte zu führen.
Christopher Brookmyre ist ein bekannter Krimi-Autor, der sein Publikum zu fesseln weiß, auch wenn er sich dazu aller greifbaren Klischees und eines teils recht schwülstigen, doch mit feinen Spitzen durchsetzten, Stils bedient.
Auch Selbstironie ist ihm nicht fremd: „ Eine gute Geschichte sollte nicht mit einer toten Dirne beginnen …“ Doch Evie hat keine Chance, sie ist tot bevor die Geschichte beginnt.
Der englische Titel ist ein Zitat aus der Genesis: „Und Gott sah die Erde, und sieh, sie war verdorben, denn der Weg allen Fleisches war verdorben auf Erden.“ Und er hat sich mit Schaudern abgewendet. Der Autor wendet sich vermutlich nicht so schnell ab, wer einmal ins Labyrinth des alten Edinburgh eingetaucht ist und Sarah liebgewonnen hat, will doch erfahren, ob sie tatsächlich etwas lernen darf, und auch, ob Raven Detektiv bleibt oder doch zum Arzt approbiert wird.
Ambrose Parry: „Die Tinktur des Todes“, übersetzt von Hannes Meyer, Pendo 2020. 464 S. € 17.50.