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Regine Koth Afzelius: „Der Kunstliebhaber“, Roman

Autorin mit Pfiff: Regine Koth Afzelius. © Edition Roesner

Die Museen sind geschlossen, doch die Bücher können jederzeit geöffnet werden, und wenn sie vom Betrachten der Bilder erzählen, dann ist man gleich mittendrin im Home-Museum. Regine Koth Afzelius ist das mit ihrem an Seiten zwar dünnen, an Inhalt aber prallen Roman „Der Kunstliebhaber“ hervorragend gelungen. Ein beflissener Führer leitet durch das gesamte Cinquecento im stets offenen privaten Museum und unterhält aufs allerbeste.

Die Titelrolle spielt Leo, der nicht nur die Kunst, respektive die Malerei der Renaissance liebt, sondern auch das andere Geschlecht. Die zweite Geige spielt die Tierärztin Claire, der Leo Augen und Herz öffnet.  Michelangelo ( 1475–1564):  "Das Jüngste Gericht", Altarwand der Sixtinischen Kapelle. © wikipedia / gemeinfreiDoch Leo hat Bindungsängste, wird’s zu nah, zum Beispiel im Wiener Hotel Orient, ist nach einer Nacht alles vorbei. Also zumindest die Herzensangelegenheit und das Fleischliche. Der Kunstunterricht wird fortgesetzt, nicht auf immer und ewig, aber einige Zeit noch. Leo kompensiert, findet das Fleischliche in den Bildern. Wo hat Gott, als er am Plafond der Sixtina Adam erschaffen hat, die linke Hand? Was tut er da? Oder die Venus von Urbino, liegt da nackt, die Hand an der Scham. Sicher nicht, um sie zu bedecken. Und was bedeuten die eine Kirsche, umgeben von zwei Himbeeren, auf Tizians Bild von der „Kirschenmadonna“, das von der Leserin ganz leicht überprüft und mit Leos Anleitung auch gedeutet werden kann, denn es hängt in Wien, im KHM. Das öffnet ganz sicher noch, bevor die Herbststürme toben, und jede und jeder kann dann sehen, dass der kleine Jesus nicht beschnitten ist, obwohl er bereits stehen kann, also über das Alter der geboteParmigianino (1503–1540): "Die Beschneidung Christi", Detroit Institut of Arts. © wikimedia.orrg / public domain nen Circoncisione schon hinausgewachsen ist.
Die bildenden (bildnerische?) Kunst der Renaissance, doziert Leo, ist voll von Rätseln und Geheimnissen. Nach 500 Jahren hat er es sich zur Aufgabe gemacht, zu enträtseln, was Kunsthistoriker und -innen nicht einmal registriert haben.
Claire weiß wie man Männer wie Leo bei Laune hält, stellt sich naiv und ist doch lernfähig, kann ihm bald Paroli bieten. Dass Leo die Manie hat, seine Entdeckungen, nicht nur in der andachtsvollen Stille der Sixtinischen Kapelle, dem immer gebannter lauschenden kunstinteressierten und bildungshungrigen Volk kundzutun, ist Claire nur anfangs peinlich. Sie ist nicht nur von Leo als Mann, sondern auch vom Manne als Bildanalytiker begeistert und kann ihn problemlos ersetzen, als er bei der von ihm inszenierten öffentlichen Veranstaltung nicht erscheint. In einem Lokal ziert Leonardo da Vincis „Abendmahl“, gescannt und bearbeitet, mit Pfeil und Kreisen versehen, die Wände, und das kunst- und bildungsaffine Volk strömt herbei, als seien auch in Vorcoronatagen, den Zeiten des Kunst- und Herzens-Techtelmechtels zwischen Leo und Claire (Hochzeiten sind, wie schon angedeutet, nicht zu erwarten), die Hochburgen der Kunst versperrt gewesen. Alle sind da, Wissende und Neugierige, nur der Dozent fehlt. Herr Jonas, der Ober, presst sich mit vollen Gläsern durchs Lokal, die Stimmung ist gut und steigert sich zu heftigen Wortgefechten und Meinungswechseln, Kopie von da Vincis "Ultima Cena", Mosaik in der Minoritenkirche, Wien. ©  P. Diem / austria-forum.orgHerr Jonas schenkt nicht nur Sodawasser aus. Allen ist das berühmte Bild präsent, es hängt nicht nur in Mailand, sondern prangt auch, weil nicht auf die trockene Mauer gemalt, beständiger und dem Original aufs Haar gleichend, auch in der Wiener Minoritenkirche. Napoleon hat das Bild in Auftrag gegeben. Giacomo Raffaelli hat das "Cenacolo" – in der Mailänder Kirche Santa Maria delle Grazie eben nicht al fresco sondern al secco hergestellt, und deshalb wenig haltbar – aus bunten Steinchen nachgebildet: ein Mosaik, exakt zusammengepuzzelt, gut haltbar. Der Kaiser der Franzosen wollte das Werk für die Musen (opus musaicum) in seiner Hauptstadt haben, doch als die kleinteilige Arbeit endlich vollendet war, war der Korse kein Kaiser mehr, der gute Kaiser Franz (I.) musste einspringen, hat sich  großzügig gezeigt und das fast 20 Tonnen schwere Trumm gekauft. Jetzt findet man es in der Kirche der Minoriten. Dass Jesus in Wien noch seine Füße hat, während diese in Mailand wegretuschiert sind, ist eine Geschichte, die Leo Claire und Claire der zukünftigen Leserin erklären wird.
Tizian (Geburtsjahr nicht eindeutig feststellbar, am häufigsten zu lesen: 1488.  Todesjahr: 1576): "Venus von Urbino", 1538. Uffizien Florenz.© Public domainLeo lehrt Claire und damit die Leserin, acht berühmte Bilder, und in der Folge natürlich nicht nur die – das wird beim nächstmöglichen Museumsbesuch zu prüfen sein –, mit neuen Augen zu betrachten. Den Bildungsballast abzuwerfen und unvoreingenommen auf den nackten Adam oder einen anderen Nackten – unbekleidete Jünglinge locken von vielen Renaissance-Bildern – zu zeigen und wie ein naives Kind lauthals festzustellen, dass der, wer auch immer, ein ganz kleines Spatzi habe. Leo nähert sich nicht nur den italienischen Malern ohne Andacht, sondern blättert auch fern jeglicher Frömmigkeit in der Bibel, AT und NT, und kommentiert die aufgeschriebenen Geschichten mit seinen Worten. So nebenbei erzählt er auch allerhand Richtiges, Wichtiges und Ernsthaftes über die Zeit der Renaissance und die italienischen Künstler.

Die Autorin schüttelt ihren Pompadour, jede Menge schimmernder stilistischer Perlen, feinst poliert von Hugo von Hofmannsthal kollert auf die 140 Seiten. Logisch, dass Leo sein Gegenüber niemals direkt anspricht, sondern in der dritten Person auf  Distanz bleibt. Claire ist „bezaubert“:

Zum Du überzugehen war keine Option. ‚Die Anred, ich bitt ihn schön, auch fürderhin‘ – hatte sie geflötet, als er nach ihrem Namen fragte.

Wie ihr rätselhafter Held, der sich schließlich sanglos absentiert, die Bilddeutung, so macht sie sich die Sprache zu eigen, dreht und kräuselt sie, dass es eine Freude ist. Buchcover. © Foto: Regine Koth Afzelius / Edition RoesnerDie Inspirationsquellen für Leos Vorträge und Claires Repliken, spritzig und schäumend beides, gibt sie minutiös im Anfang preis. Doch die Leserin glaubt ihr alles, verzichtet gern auf Jahreszahlen und kunsthistorischen Schmus und lässt sich lieber von Leo unterhalten und neue Perspektiven eröffnen. Ob Leo aber nicht doch wieder auftaucht, bleibt offen. So eine aufnahmebereite Zuhörerin wie Claire wird er so schnell nicht wieder finden.
Regine Koth Afzelius, geboren 1962, schreibt und malt, veröffentlicht und stellt aus und lebt in Wien und im Waldviertel. 2016 ist ihr erster Roman, „die letzte partie“, erschienen.

Regine Koth Afzelius: „Der Kunstliebhaber“, Edition Roesner, 2019. 151 S. € 22,9