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Hilary Mantel: Spiegel und Licht, Tudor-Chronik 3

Zwei Mal mit dem Booker Preis ausgezeichnet: Hilary Mantel © Das Erste

Am 9. April ist der letzte Band von Hilary Mantels Cromwell Trilogie erschienen, und noch bevor die Corona-Bestimmungen gelockert worden sind, hat der DuMont-Verlag bereits die 3. Auflage veröffentlicht. Die Kritiker*innen haben sich auch überkugelt, um diesen mehr als 1000 Seiten starken dritten Band (nach „Wölfe“, deutsch, 2009 und „Falken“, deutsch, 2012) mit dem mehrfach deutbaren Titel „Spiegel und Licht“ in den literarischen Himmel zu heben. Ob viele Leserinnen sich bis zum Ende, das ja bekannt ist, durchbeißen werden, wage ich zu bezweifeln. Wie so viele andere hochgelobte Werke wird auch dieses als Schmuckstück im Regal leuchten und die Belesenheit ihrer Besitzer*innen widerspiegeln.

Gegen Hilary Mantels hohe Kunst des Erzählens ist nichts einzuwenden, auch wenn sie im dritten Band etwas übertreibt mit der Schilderung der Intrigen und des Getuschels, mit dem Aufmarsch der Personen, historischen und als Schmiermittel auch erdachten und ausufernden Dialogen zwischen Freunden und Feinden des Protagonisten. Thomas  Cromwell, Earl of Essex, gemalt von Hans Holbein d. J. © pblic domain Mantel hat da ihre Tricks, um die Leser*innen bei der Stange zu halten. Sie erzählt in der Gegenwart und aus Cromwells Perspektive, lesend ist man mitten im 16. Jahrhundert, umgeben von Adeligen und Klerikern – Hilary Mantel ist gut zu den Leser*innen und stellt im Anhang eine ausführliche Personenliste zur Verfügung, immer wieder kann nachgesehen werden, wer denn da nun wieder aufgetaucht ist, flüstert, schätzt und diskutiert –, und immer begegnet man auch dem König, Henry Tudor (Heinrich VIII.) samt seinen sechs Frauen, von denen einzig Anne Boleyn, die Mutter der späteren letzten Tudor-Herrscherin, Elizabeth I., im kollektiven Gedächtnis geblieben ist. Ihr Tod durch das Fallbeil beendet den 2. Band und beginnt auch den dritten. Doch ihr Blut spritzt nicht allein, während der Kopf vom Hals getrennt wird. Im Spiegel endet die Trilogie, jetzt rollt Cromwells Kopf. Und bevor er stirbt, kehrt er in seine Kindheit zurück, erinnert sich, wie der strenge Vater, ein Schmied, ihn mit Schlägen und Tritten gezüchtigt hat und den am Boden Liegenden barsch auffordert:

Und jetzt steh auf, steh auf! – Komm schon, Junge, steht auf. Beim Blut des kriechenden Jesus komm auf die Füße.

Wie zu Beginn der Trilogie fühlt sich Cromwell auch an seinem Ende ins Wasser gezogen.

Er tastet nach einer Öffnung, blind sucht er nach einer Tür: folgt dem Licht die Wand entlang.

Wenn so ein letzter Satz nicht Booker Preis würdig ist! Für die ersten beiden Bände hat Mantel ihn, 2009 und 2012, erhalten, als Erste, der die renommierte Ehrung doppelt zuteil geworden ist. Den Hattrick hat sie nicht geschafft, aber Zwei Mal 50.000 Pfund Sterling (im April 2020 etwas mehr als 57.000 €) werden sie trösten. 2019 wurde ihr „Rekord“ übrigens eingestellt, auch Margaret Atwood nennt zwei Booker Preise ihr Eigen: 2000 für „Der blinde Mörder / The Blind Assasin“ und 2019 für „Die Zeuginnen“ / „The Testaments“. Henrys 2. Frau Anne Boleyn erlangte durch ihre  Affären und ihre öffentliche Hinrichtung immerwährende Berühmtheit. © public domain

Cromwell (1485–­1540) diskutiert nicht nur mit Männern, auch auf Frauen redet er ein und vor allem denkt er, nicht nur in der Stunde seines Todes, sondern eigentlich ununterbrochen, sogar im Schlaf. Nicht immer sind die Gedanken und Wörter von großer Relevanz. Doch noch ein Spiegelbild fällt auf, sofern man im Geschichtsunterricht aufgepasst hat. Rund ein Zentennium nach Thomas Cromwell wird wieder ein Cromwell in die Chroniken geschrieben: Oliver, ein Urenkel von Thomas Neffen Richard. Der außerhalb Englands weit bekanntere Cromwell (1599–1658) war genau das Gegenteil seines Uronkels, nicht Freund und Ratgeber eines Königs, sondern dessen erbitterter Gegner und kein Staatsmann, sondern Feldherr und, nicht von minderer Geburt sondern ein Landadeliger, der eine Verwandte des Hauses Stuart geheiratet hat und im Bett an Malaria (unter der laut Mantel auch Uronkel Thomas gelitten hat) gestorben ist. Im Spiegelbild ist jedoch auch zu sehen, dass Oliver wie Thomas ein begeisterter Puritaner war, der die Loslösung Englands von Rom betrieben hat. Während Thomas wegen Hochverrats – Heinrich VIII. war dessen Auslegung des Protestantismus zu weit gegangen und Cromwells Feinde, allen voran Heinrich VIII. nach Hans Holbein d.J. ©  Google Art Project / wikipediader ehemalige Freund Herzog von Norfolk, der Onkel der geköpften Königin Anne Boleyn, haben Thomas Cromwells Untergang betrieben – seinen Kopf verloren hat, hat Oliver den des Königs, Karl I., fallen lassen. Der Grund war immer noch der gleiche: Hochverrat. Thomas Cromwell hat durch seine Verwaltungsreformen England modernisiert, Oliver Cromwell hat England (für kurze Zeit) in eine Republik umgewandelt. Er hat die Königswürde, die ihm das Parlament angetragen hat, abgelehnt. Doch nach seinem Tod hat das Parlament Karl II. wieder die Königswürde verliehen. 1661 ist Oliver Cromwell exhumiert worden und seine Leiche nachträglich geköpft worden. Für die Königstreuen galt er als „Königsmörder“.

Vermutlich könnte man über ihn das Gleiche sagen, was der Historiker Edward Hall († 1547) über seinen fernen Vorfahren geschrieben hat:

Viele wehklagten, aber noch mehr frohlockten. […] Aber es ist wahr, dass er von bestimmten Geistlichen furchtbar gehasst wurde, besonders von denen, die einen unkontrollierten Lebenswandel geführt hatten und die durch seinen Einfluss davon abgebracht wurden. Denn in der Tat war er ein Mann, der bei allen seinen Taten keinerlei Art von Papisterei duldete und der sich nicht mit dem hochmütigen Stolz einiger Prälaten abfinden konnte, die zweifellos, was auch immer sonst die Ursache seines Todes war, sein Leben verkürzten und das Ende herbeiführten, das ihm bereitet wurde.

Die erste, die einen umfassenden, auf historischen Tatsachen beruhenden mehrteiligen Roman einer Epoche geschrieben hat, ist, wie viele sagen, Mantel (ungeachtet des Geschlechts) nicht. Schon im vergangenen Jahrhundert hat der Historiker und Politiker (ein Jahr war er gar französischer Kulturminister) Maurice Druon mit seinem siebenteiligen Roman „Die unseligen Könige“ / „Les rois maudits“ über die Thronkämpfe zwischen 1314 bis 1356 unter den Zweigen der Familie Capet (Kapetinger) in Frankreich, beginnend mit der Verbrennung des letzten Großmeisters des Templerordens Jacques de Molay auf Anordnung Philippe des Schönen Kritiker*innen und Leser*innen beeindruckt. Maurice Druon († 2009), Historiker, Autor, Minister, auf Besuch in Orenburg, 2003. ©  free licenseAuch Druon hat viele Jahre gebraucht, von 1955 bis 1977 (Erscheinungsdatum des Originals) sein Werk zum Abschluss zu bringen. Wie die Tudor-Chronik Mantels ist auch Druons Kapetinger-Epos zum Teil für das Fernsehen adaptiert worden. Die deutsche Ausgabe ist längst vergriffen, später wurden die sieben Teile in drei Bänden zusammengefasst. Doch auch davon sind lediglich noch zwei als Fischer Taschenbuch („Fluch der Flammen“, „Lilie und Löwe“) in der Buchhandlung zu bestellen. Der Mittelteil, „Das Gift der Krone“ kann möglicherweise noch im Antiquariat gefunden werden. Nicht für diese beeindruckende, spannend erzählte Recherchearbeit hat Druon den Prix Goncourt, ebenso angehsehen wir der englische Booker Prize, erhalten, sondern für den Roman „Die großen Familien“.

Zurück zu Mantel und ihrem Cromwell, dem sein steiler Aufstieg, vom Sohn eines Dorfschmiedes zum engsten Berater des Königs als Lordsiegelbewahrer und Vizeregent in geistlichen Dingen, den Heinrich zum Baron von Wimbledon, und Earl of Essex ernannt hat, wohl zu Kopf gestiegen war, den er schließlich durch seine Hybris – manchmal dachte er, er sei der König von England – mit nur 55 Jahren verloren hat. „Henry, so schreibt Mantel im Nachwort, „überlebte Cromwell um sieben Jahre. Die Tudor Rose, verblüht mit Elisabeth I. Ableben. © Sodocan /wikipediaEr war krank, körperbehindert und gefährlich.“ Thomas Howard, 3. Duke of Norfolk, der Cromwell zu Fall gebracht hat, wurde 81 Jahre alt. Auch er ist wegen Hochverrats verurteilt, aber nicht hingerichtet worden, weil der König gestorben ist, bevor er das Urteil unterschrieben hat. Norfolk ist sieben Jahre im Tower geblieben, und erst ein Jahr vor seinem Tod wurde der 80jährige entlassen, erhielt seinen Titel zurück und durfte zu Hause sterben.

Später soll der König die Hinrichtung Cromwells bedauert und die Minister beschuldigt haben, diese durch „Vorwände und falsche Beschuldigungen“ erreicht zu haben. 1541 hat der französische Botschafter Charles de Marillac in einem Brief berichtet, dass der König nun beklagen solle, dass

sie unter dem Vorwand einer geringfügigen Straftat, die er begangen hatte, mehrere Anschuldigungen gegen ihn erhoben hätten, auf deren Grundlage er den treuesten Diener getötet hätte, den er jemals hatte.

Sollte das stimmen, so wäre Thomas Cromwell der einzige unter den Opfern Heinrichs VIII., die zum Teil auch seine waren, der postum einen königlichen Pardon erhalten hat.

Er brachte Cromwell zu Fall: Thomas Howard 3. Duke of Norfolk, gemalt von Hans Holbein d.J. © Wikipedia /public domainWar dieser Staatsmann, so wie ihn die Autorin darstellt, anfangs noch überaus sympathisch, ja auch tolerant, klug und belesen, so verliert er, je länger sich die Leser*in mit ihm beschäftigt, beschäftigen muss, zusehends an Glanz und Sympathie. Es ist ja die alte Geschichte, dass man sich in einem Rudel von Wölfen, Falken und natürlich vor allem Schlangen, nur als Wolf, Falke oder Schlange behaupten kann. Alt ist auch das Wissen, dass wer einmal die Macht geschmeckt hat, nicht mehr davon lassen kann, süchtig und von der Hybris erfasst wird. In der griechischen Tragödie haben die Götter Nemesis ausgeschickt, um den Übermütigen zu bestrafen. 1540 waren es die Neider und Einflüsterer, die den König dazu brachten, sich von Thomas Cromwell zu trennen.
Am Ende stellt Mantel wieder den Spiegel auf, führt ihn zurück in die Jugend, lässt ihn – das persönliche Fürwort ersetzt in den drei Romanen häufig den Namen, hat man sich daran gewöhnt, erleichtert es das Lesen – auch an Thomas More denken, zu dessen Hinrichtung er, Thomas Cromwell, beigetragen hat und natürlich an Anne Boleyn. Trotz aller erzählerischer Kunst von Hilary Mantel hätten 500 Seiten auch genügt, um den Bericht von Thomas Cromwells Aufstieg und Fall elegant zu beenden. Durch ihre überbordende Fantasie gepaart mit belegten Informationen, Platz am Towerhill, wo das Gerüst aufgebaut war, auf dem Thomas Cromwell am 28. Juli 1540 hingerichtet worden ist. © Mariordo (Mario Roberto Duran Ortiz) / wikipediafällt man immer wieder ins tiefe Loch der Langeweile, zumal man ja das Ende kennt.
1992 ist Mantels Roman über die französische Revolution „A Place of greater Safety“ (Deutsch: „Brüder“, DuMont, 2013) erschienen, 1102 Seiten lang und in der gesamten Fülle der erdachten Dialoge ebenso kaum zu bewältigen. Die Würze fehlt. Dass Mantel „ihren“ Cromwell ganz anders malt, als er in den Geschichtsbüchern und im Gedächtnis der Briten (für die einen ein Held, für die anderen ein Ketzer und Verräter) lebendig ist, kann trotz der vielen Farben, des personellen Aufwandes und der detaillierten Beschreibungen seines Handelns, Träumen und Denkens, nicht bestätigt werden.
Wer noch mehr über die Tudor-Trilogie erfahren möchte, darf sich bei DuMont das digitale Booklet „Hilary Mantel und die Tudors“ herunterladen. Neben den Personalien der wichtigsten Figuren sind auch wichtigen Daten im Leben Cromwells und Heinrich VIII. aufgelistet. "Spiegel und Licht", Buchcover. © DuMont VerlageAußerdem ist zu erfahren, worum es der Autorin in ihrer Trilogie gegangen ist. Weitere Kapitel befassen sich mit „wichtigen Themen“, der „aktuellen Relevanz der Trilogie“ und der „kulturellen Bedeutung von ‚Wölfe‘ und ‚Falken‘.“ Um jegliche Unsicherheit zu beseitigen, sind diverse Lobeshymnen von Rezensent*innen in Printmedien und Radiosendern aufgelistet und auch Fragen, die Leser*innen an die Autorin gestellt haben. Um Antworten zu erhalten, sollen die Romane gelesen werden.

Hilary Mantel im DuMont Verlag
„Spiegel und Licht“ Werner Löcher-Lawrence, 2020; 3. Auflage. 1104 S. € 32,90. E-Book: € 26,80.
„Wölfe“, aus dem Englischen von Christiane Trabant, 2010; 6. Auflage. 768 S. € „Falken“, aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence, 2013, 1. Auflage, Hardcover; 2020, 2. Auflage als Tb. 480 S. Gebunden: € 23,70; Tb: € 10,30. E-Book € 9,30. E-Book als Doppelband „Wölfe und Falken“: € 15,50.
„Hilary Mantel und die Tudors“, DuMont, gratis herunterzuladen.
„Brüder“, übersetzt von Rabine Roth und Kathrin Razum, DuMont, 2013, 4. Auflage, Tb. 1102 S. € 14,40. Hardcover, 1. Auflage, 1104 S. € 23,70.