Dennis Lehane: „Gone Baby Gone“, Thriller
Gone Baby Gone“, erstmals auf Englisch 1998 veröffentlicht und 2000 übersetzt, ist ein Kultbuch und auch, seit 2007, ein Kultfilm. Dem Diogenes Verlag ist es zu verdanken, dass die Romane der Kenzie & Gennaro-Reihe Lehanes nun sukzessive von Peter Torberg neu übersetzt worden sind und dadurch sowohl an Spannung wie an Ausdruckskraft gewonnen haben.
Im Vorjahr ist „Sacred“, erschienen 1998, bei Diogenes unter „Alles, was uns heilig ist“ editiert worden. Fehlen noch „Prayers in the Rain“ und „Moonlight Mile“. Darauf darf man sich noch freuen.
In „Gone Baby, Gone“ steht das Kindeswohl im Mittelpunkt, manchen liegt es so am Herzen, dass sie ein Kind, die vierjährige Amanda, entführen. Die Mutter, Helene McCready, ist Drogen und Alkohol, auch dem Fernsehen und falschen Freunden mehr zugeneigt als ihrer Tochter, doch die Schwägerin, mit Helenes Bruder verheiratet, sorgt sich mehr um den Verbleib ihrer Nichte als die Mutter, die ihre Trauer vor allem vor der Reportermeute zur Schau stellt. Die Polizei rückt mit Hundertschaften aus, und findet keine Spur der Kleinen, sie scheint samt ihrer Puppe vom Erdboden verschwunden. Deshalb engagiert die Tante das Privatdetektiv-Duo Patrick Kenzie / Angela (Angie) Gennaro, die anfangs mit Kindesentführung, denn danach sieht es aus, nichts zu tun haben wollen, sich aber schließlich von Tante Beatrices insistenten Bitten überreden lassen.
In Boston, wo die Familien McCready im Arbeiterviertel Dorchester wohnen, hat die Polizei eine eigene Abteilung für die Suche nach verschwundenen und die Rettung misshandelter Kinder. Mit zwei Detektiven aus dieser Abteilung, Remy Broussard und Nick Raftopoulos, tun sich Kenzie & Gennaro zusammen, um Amanda zu finden. Dennis Lehane ist nicht zimperlich, Blut ist für ihn kein besonderer Saft, deshalb rinnt und spritzt es aus ungezählten Wunden, auch Kenzie muss seine Moralvorstellungen und die Heiligkeit des menschlichen Lebens immer wieder über Bord werfen. Die wagemutige, sportlich gestählte Angie wirft sich selber ins Geschehen und springt von einer hohen Klippe in den tiefen kalten See. Für Aufregung ist also gesorgt und doch dauert es lange, bis endlich eine Spur Amandas entdeckt wird. Erst im Nachhinein erkennt die Leserin die zahlreichen Hinweise, die der Autor immer wieder gibt, um auch sie auf die richtige Spur zu lenken. Zu spät, die Verwirrung im Finale gleicht der Überraschung.
Lehane hat mit dem eigenen Herzblut geschrieben, authentisch und hochaktuell: In den USA, schreibt er, werden Tag für Tag zweitausenddreihundert Kinder vermisst gemeldet. Nicht immer sind die Eltern wirklich interessiert, dass sie wieder auftauchen. Kenzie erzählt seine und Angies Abenteuer selbst, und Abenteuer sind ihre Ermittlungen alle, weil sie auch niemals geradlinig verlaufen, sondern sich in alle Richtungen ausbreiten wie eine Blutlache, doch ist er weniger eitel und selbstgenügsam wie manch anderer Ich-Erzähler der Literatur. Im Gegenteil, er ist voller Selbstzweifel und schwankt immer wieder zwischen seinem eigenen moralischen Kodex und den gesetzlichen Notwendigkeiten. Der perfekte Erzähler ist natürlich der heute 55jährige irischstämmige Autor, der, wie die meisten seiner Figuren, nicht nur in den Kriminalroman, selbst aus Boston stammt. Wie sein berühmter Kollege Dashiell Hammett (gestorben vier Jahre vor Lehanes Geburt 1961) gibt es keine scharfe Trennung zwischen Gut und Böse auch nicht bei der Polizei, deren Arbeit und Verquickung mit dem Verbrechen realistisch und hautnah geschildert werden und die gesellschaftliche Relevanz und der Bezug zur Wirklichkeiten gehen in jedem Lehane-Roman tiefer als in einem gewöhnlichen Krimi. Sein Stil ist elegant, brillant, möchte ich sagen, die Übersetzung wohl auch, denn nur über die kann ich urteilen. Es gibt keinen Satz, der nicht die Geschichte vorantreibt oder vertieft. Lehane ist für mich der einzige Autor, der auch über die Kleidung und die Mahlzeiten seiner Figuren schreiben darf, ohne dass er in Verdacht des puren Zeilenschindens kommt. Kurz, von Kenzie & Gennaro oder einen anderen Roman Lehanes zu lesen, ist immer ein Gewinne, wenn der doppelte Autor (das Geschöpf Kenzie, der Schöpfer Lehane) auch oft Furcht, Schrecken und Trauer hervorruft. Doch welch größere Genugtuung kann eine Lektüre geben, als Emotionen hochkochen zu lassen!
Dennis Lehane: „Gone Baby Gone“, Ein Fall für Kenzie & Gennaro, aus dem Amerikanischen von Peter Torberg, Diogenes 2020. 576 S. € 17,50. Auch als eBook erhältlich.
Die Verfilmung des Romans ist auch als DVD erhältich: "Gone Baby Gone – Kein Kinderspiel", ARTHAUS / Besondere Filme.