Hansjörg Schneider: „Hunkeler in der Wildnis“
Peter Hunkeler, ehedem Kommissär in Basel, ist jetzt Privatmann, kann seinen Morgenkaffee vor dem Kiosk am Kannenfeldpark trinken, Zeitung lesen und dem Klang der Kirchenglocken lauschen. Könnte er, wenn nicht an diesem speziellen Sonntag im nahen Park eine Leiche liegen würde. Doch so wenig wie den Rentner Hunkeler der Tote interessiert, so desinteressiert ist auch der Autor, Hansjörg Schneider, an dem Kriminalfall. Lieber lässt er den Hunkeler die Verwilderung der Welt und die tröstliche Schönheit der Natur spüren. „Hunkeler in der Wildnis“ nennt Schneider seinen 10. Hunkeler-Roman, der gar kein richtiger Kriminalroman ist, sondern viel mehr, vor allem ein Blick auf die Natur und in die Menschen.
Einmal Polizist, immer Polizist, sagt der Frühstücksbekannte und scheucht, kaum hat die aufgeregte Türkin von einem Toten im Park berichtet, den in der Vormittagssonne dösenden Exkommisssär aus seiner Sonntagsruhe. Widerwillig geht er absichtlich langsam zum Schauplatz. Immerhin hat er die Freude, vor der Polizei und seinem wenig geschätzten ehemaligen Kollegen Madörin dort zu sein. Den Toten kennt er. Doch mit den Kollegen aus der Vergangenheit will er nichts zu tun haben, als Zeuge steht er nicht zur Verfügung und flieht deshalb über die Grenze in sein Haus im Elsass.
Der Hunkeler, der auch von seiner geliebten Hedwig gern mit dem Familiennamen angeredet wird, ist mehr komischer Kauz und brummiger Bär als konventionell ermittelnder Polizist gewesen.
Kauz und Bär ist er immer noch, und mit den Kollegen wollte er schon, als er noch im Dienst war, nichts zu tun haben. Hunkeler ging dienstlich und geht jetzt privat seine eigenen Wege. Deshalb weicht er der Basler Polizei aus, wo er kann. Zu ermitteln, wer den als boshaft beschriebenen Theaterkritiker ermordet haben könnte, ist nicht mehr seine Aufgabe. Und auch der Autor des zehnten Hunkeler Krimis, Hansjörg Schneider, ist mehr an Hunkelers Gedanken und Befinden interessiert als an der Leiche im Park. Er lässt den Hunkeler lieber seinem Hobby, dem Rheinschwimmen, frönen, das er mit dem Großteil der Basler*innen teilt, folgt dem Naturbeobchter auf seinen Spaziergängen und den Fahrten über die Dörfer, und hört mit ihm dem Zwitschern und Singen der Vögel zu, die er, der Autor, alle kennt. Denn der Autor ist selbst in Basel daheim und kennt sich in der Topografie, mit dem Wetter und so manchen eigenartigen Bewohner*innen aus. Der Hunkeler besucht diese, die Abgestürzten, Ausgegrenzten, Gescheiterten und alle die, die nach ihren eigenen Regeln leben und kaum jemandem etwas zuleide tun, besonders gern, hört sich ihre Geschichen an und trinkt eifrig mit ihnen mit.
Am nächsten Morgen hat er einen schweren Kopf.
Hunkelers Welt verwildert zusehends, der Tote im Park bleibt nicht der einzige. Dass dieser, der Kritiker Heinrich Schmidinger (ausgerechnet ein Österreicher in der Schweiz), sterben musste, hat vielerlei Gründe, der Tod der Flötenspielerin, die barfuß nach Cremona der Musik entgegen wandern will, ist grundlos. Rowdies haben sie erschlagen und in den Fluss geworfen. Hunkeler erschreckt „die Unvereinbarkeit“. Vergeblich versucht er auch, den wilden Hund zu zähmen, der ihm nachschleicht und immer wieder verschwindet. Er nennt ihn Kaspar, weil er ihn an den abseits der Zivilisation aufgewachsenen Kaspar Hauser erinnert. Dieser Kaspar ist eine lebende Metapher für die allgemeine Verwilderung, die Hunkeler, in manchem Detail ein etwas jüngerer Doppelgänger des Autors, spürt. Auch Kaspar stirbt einen grausigen Tod, er hat es sich mit einer Bache angelegt, die ihre Frischlinge verteidigt hat. Gegen ein rabiates Wildschwein kommt auch der wildeste Hund nicht an.
Hunkeler ist tief im Innersten, wie gesagt, immer noch Polizist und auch neugierig, wer denn den Schmidinger mit der Boulekugel erschlagen hat. Verdächtige gibt es genug, jeder und jede könnte es gewesen sein. Das ist das Geheimnis von Schale und Kern. Ein Mörder / eine Mörderin kann in jedem Menschen lauern, und manch stachelige Schale umhüllt einen menschenfreundlichen Kern. Ein heimtückischer Mord kann sich demnach als notwendiger Totschlag entpuppen.
Am Ende wird jedenfalls alles gut, Hunkeler reist mir seiner Hedwig mit der Schweizer Bundesbahn durch den Gotthart-Tunnel gen Italien. Franziskus in Assisi soll besucht werden, im Speisewagen wird Trota al limone serviert.
Hansjörg Schneider erzählt klar und ruhig, im Gegensatz zum Hunkeler, der wie eine wildgewordene Wespe zwischen Basel und seinem Haus im Elsass hin und her saust, sich verkleidet, damit ihn sein ehemaliger Kollege, der etwas einfältige Kommissär Madörin, nicht erkennt und er dennoch immer wieder Zeit findet, seinen Durst zu stillen. Schneiders klare Sprache bietet pures Lesevergnügen, und der Autor nützt die Gelegenheit, dem Protagonisten seine eigenen Irritationen in den Mund oder ins Gemüt zu legen: die allerorten hörbare klischeehafte Islamkritik oder das „Genderzeug“. Aufdringlich wirkt dieser Anflug von Humor niemals. Wer weiß, ob dem Hunkeler nicht auch in Assisi eine Leiche vor die Füße fällt, während er die Eidechsen auf den sonnenwarmen Mauern beobachtet.
Hansjörg Schneider: „Hunkeler in der Wildnis“, Der zehnte Fall, Diogenes 2020. 224 S. € 22,70. Auch als E-Book verfügbar.
S AM Schweizerisches Architekturmuseum und Andreas Ruby, Yuma Shinohara (Hg.): Swim City, Christoph Merian, 2019, 224 S., 180 meist farbige Abbildungen. € 39,10.