Literatur im Film: „Wir töten Stella“, ein Versuch
Der Publikumserfolg seiner Verfilmung von Marlen Haushofers 1963 erstmals erschienenen Roman „Die Wand“ lässt Regisseur Julian Pölsler nach einer zweiten Literaturvorlage greifen. Auch die bekannte Erzählung „Wir töten Stella von Haushofer, erstmals erschienen 1958, wird bebildert und landet auf der Kinoleinwand. Wie fünf Jahre zuvor spielt Martina Gedeck die Hauptrolle, wieder eine Icherzählerin. Sie scheitert am öden Leben als Hausfrau und Mutter im goldenen Käfig, wagt nicht, auszubrechen, flüchtet sich in Gefühlskälte und Teilnahmslosigkeit.
Gescheitert ist auch Regisseur Pölsler an der Geschichte dieser Schneekönigin mit dem Splitter im Herzen. Anna, die Erzählerin, ist Mutter zweier Kinder und Ehefrau eines erfolgreichen Scheidungsanwaltes (Matthias Brandt), der seiner Frau auf die Frage, warum er sie liebe, spontan antwortet: „Weil du mir gehörst.“ Wie vor mehr als 60 Jahren Haushofers Ehemann, Manfred, den sie im Jahr des Erscheinens der Novelle zum zweiten Mal geheiratet hat, ist Annas Ehemann ein Frauenheld, der im Lebensgenuss keine Hemmungen kennt. „Richard ist ein Ungeheuer: fürsorglicher Familienvater, geschätzter Anwalt, leidenschaftlicher Liebhaber, Verräter, Lügner und Mörder“, beschreibt Anna ihn. Sie selbst ist längst zum funktionierenden Automaten geworden, „einen Automaten, der seine Arbeit verrichtet, kaum noch leidet und nur für Sekunden zurückverwandelt wird in die lebendige junge Frau, die er einmal war.“ Dass sie noch lebt, spürt sie nur in der Nähe ihres 15jährigen Sohnes, Wolfgang. Die jüngere Tochter gehört dem Vater.
Zur 17jährigen Stella, die ungewollt in das fragile Gleichgewicht der nach außen hin intakten Familie eindringt, findet sie keinen Zugang. Stella ist die Tochter einer ehemaligen Mitschülerin, die diese bei Anna ablädt, um mit einem jungen Liebhaber auf Reisen zu gehen. Obwohl Anna ahnt, dass allein die Anwesenheit dieser jungen, schüchternen, auch unbedarften Frau den mühsam aufrecht erhaltenen häuslichen Frieden stören wird, wehrt sie sich nicht. Obwohl sie weiß, „Er wird Stella zugrunde richten“, nimmt sie das schweigsame Mädchen bei sich auf, treibt sie ihrem Mann nahezu in die Arme, unternimmt nichts, um die ehemalige Klosterschülerin zu retten, während sie vom Himmel in den Abgrund stürzt und dem Tod entgegentaumelt.
Anna bleibt ungerührt, erzählt rückblickend das grausige Ende von Stella, an dem sie nicht nur Richard, der sie verführt und schnell wieder fallen gelassen hat, die Schuld gibt, sondern auch sich selbst. Dass sie die Wand zwischen sich und dem Mädchen nicht durchbrechen konnte und tatenlos zugesehen, ja gewartet hat, dass die Ruhestörerin endlich verschwindet, lässt sie nicht mehr los. Reue spürt sie keine, nur die Erinnerung soll gelöscht werden, damit das alte Leben auf dem Minenfeld voller Tabus wieder aufgenommen werden kann. Doch sie weiß, dass dies unmöglich ist. Ein neues Tabuthema ist aufgebaut. Wolfgang, der über alles geliebte Sohn, flieht ins Internat.
Haushofers Novelle strahlt eine harte Kälte aus. Wie durch eine Lupe lässt sie Anna, die Erzählerin, den Film im Kopf zurückspulen, das Geschehen vom Auftauchen Stellas bis zum erwarteten Ende, auch ihre eigene Versteinerung und Tatenlosigkeit betrachten und emotionslos schildern.
Hatte Martina Gedeck im Film „Die Wand“ kaum zu überbietende Konkurrenz in den mitspielenden Tieren und der wilden Natur im Wechsel der Jahreszeiten, großartig eingefangen von Kameramann Martin Gschlacht, so spielt die Natur in der verfilmten Erzählung eine weniger imposante Rolle. Die anfängliche Schilderung des aus dem Nest gefallenen Vogels huscht im Film als ziemlich unwichtige Metapher rasch vorbei. Auch wenn Gedeck immer wieder Textstellen der Novelle zitiert, fehlt dem Film die plastische Intensität und die schneidende Kälter der Sätze Haushofers. Die Leidensmiene der Hauptdarstellerin ist weit entfernt von den marternden Gedanken und der quälenden Furcht vor dem weiteren Leben der literarischen Erzählerin.
Pölsler arbeitet mit platten, geschmäcklerischen Bildern, die in ihrer Einförmigkeit und den Wiederholungschleifen (aha: gleichförmiger Alltag der berufslosen Hausfrau) bald langweilen. Die Nachkriegszeit, in der die Novelle spielt, muss aktualisiert werden. Muss sie?
Pölsler setzt die scheinbare Familienidylle in eine Villa mitten im verregneten Garten, eingerichtet von Schöner–Wohnen-Designern und simuliert Zeitlosigkeit, indem er Anna an der Schreibmaschine beginnen und nach wenigen Minuten am iPad fortsetzen lässt. Da Anna, die schon lange das Haus kaum verlässt, sich hauptsächlich in dem mehrstöckigen Glasbau aufhält, erfindet Pölsler im selbst erstellten Drehbuch unsinnige Szenen dazu, die so störend sind wie der Fremdkörper Stella in der Familie. Zu Beginn erzählt sie, dass sie die Farbe Blau liebt, also stakst die Film-Anna, Blau in Blau, auf blauen Stöckelschuhen mit Pfennigabsätzen (heute: High Heels) Tag und Nacht über das makellos polierte Parkett. Wo gibt es denn sowas!
Vieles, was Haushofer so präzise zu Papier gebracht hat, wird im Film viel zu wörtlich genommen, illustriert und verdeutlicht. Dem Rätselhaften und Geheimnisvollen wird kein Raum gegönnt. Wo sich eine Lücke auftut, in die sich die Zuseherin hineinzwängen könnte, wird diese zu gepappt und mit Musik (Bach Cellosonaten) gefüllt, als wäre eben diese eisige Stille, die das Ehepaar umgibt, dem Fernsehvolk nicht zuzumuten.
Jetzt habe ich mich verraten, aber nicht verrannt! Leider, ich langweile mich tatsächlich bei einem für die Kinoleinwand aufgeblasenen Fernsehfilm. Einstellungen und vorgefertigte Elemente erinnern an Tatort und anderes routiniertes Futter für Schaulustige und Denkfaule.
Nicht nur Regisseur Pölsler hat reiche TV-Erfahrung, auch Kameramann Walter Kindler ist mit der Fernsehkamera bestens vertraut. Vom Kaisermühlen Blues über diverse Sokos und Tatorte bis zur Talkshow „Wir sind Kaiser“ – Kindler steht dahinter. Und auch Matthias Brandt weckt sofort TV-Assoziationen. Im Tatort-Pendant „Polizeiruf 110“ überzeugt er als Münchner Ermittler Hanns von Meuffels. Im Film von Julian Pölsler bleibt er weitgehend hinter der Financial Times verborgen, nächtens patscht er die Hand auf Annas Schulter: Du gehörst mir.
Arm dran ist Ulrike Beimpold. Sie muss als Luise, die männernärrische Mutter von Stella, eine Kabarettcharge spielen, damit auch im Kino gelacht werden kann, wenn schon die Darstellerinnen das niemals tun. Regisseur Pölsler hat allen den gleichen starren Gesichtsausdruck verordnet, der sich auch in 100 Minuten nicht verändert. Auch Mala Emde als Stella, von Haushofer anfangs als „groß, schön, ein wenig zu kräftig“ geschildert, macht keine Verwandlung durch, nachdem sie Anna mit neuer Garderobe ausgestattet hat. Das von Anna beobachtete „Erblühen“ des Mädchens wird nur erzählt. Die begabte blutjunge Schauspielerin Mala Emde darf den Glücksrausch nicht im Gesicht tragen. Sie muss Annas leeren Blick mit einem ebensolchen Starren erwidern, um sich dann im Dunkel aufzulösen. Ach ja, das kündigt ihren Tod an, den wir aber längst kennen, denn getreu der Novelle beginnt der Film mit dem Ende des Familiendramas. Nur dass dieses, also Stellas, Ende im Film von Bumm, Krach, Knirsch und Kreisch begleitet ist. Der Telefonanruf aus dem Spital ist wohl nicht filmgerecht genug. Ein Film war wohl auch kaum Marlen Haushofers Intention.
Wer sich den Film ansehen möchte, sollte die Novelle nicht gelesen haben, und wenn die Lust auf die straffe, beinharte Erzählung nicht vergangen ist, sich nach abschließendem Originalzitat der Lektüre hingeben. Der Schock ist dann ein positiver.
„Wir töten Stella“, Drehbuch und Regie Julian Pölsler, nach der gleichnamigen Erzählung von Marlen Haushofer. Kamera: Walter Kindler, J. R. P. Artman. Mit Martina Gedeck, Mala Emde, Matthias Brandt und anderen, im Verleih von Thimfilm. Kinostart: 29. September 2017.
Marlen Haushofer: „Wir töten Stella / Das fünfte Jahr“, zwei Novellen. List 2003, 112 S. € 9.30