Die Schatten, der Baum und die Blätter – Sibylle
William Kentridge ist wieder bei den Festwochen zu Gast. Ein Erlebnis erhebend und unterhaltsam. Persönlich wohnt er der Aufführung seiner Kurzoper Warten auf die Sibylle (Waiting for the Sibyl) bei und sieht auch den Film Der Augenblick ist vorbei (The Moment Has Gone). Exklusive der Pause ist der gesamte Abend kaum eine Stunde lang. Aber welche Welt eröffnet sich, welche Themen werden zum Mit- und Nachdenken angeboten, welche Türen öffnen sich, auch wenn am Ende nicht nur die Sessel auf der leeren Bühne zusammenbrechen. Ein Erlebnis, das Hirn und Herz öffnet. 20. Juni, Halle E (MuseumsQuartier) im Rahmen der Wiener Festwochen.
Als Vorspann ein Film. Kentridge in seinem Atelier, er zeichnet, vermisst, wischt, übermalt und löscht mit Kohlestift und Kohlestaub. Doch er ist nicht allein, sein alter Ego erscheint auf den alten Kontoblättern aus dem 19. Jahrhundert, die auch auf die Vorhangplatte, die später die einzelnen Szenen der Oper trennen wird, affichiert sind und sein Doppelgänger schaut ihm zu, berät und kritisiert, wendet sich schließlich kopfschüttelnd ab, um bald wieder neugierig zuzusehen. Dazu Musik, jazzig, einschmeichelnd, auch dissonant. Komponist Kyle Shepherd tanzt mit den Fingern auf den Klaviertasten, mit dem Körper im Takt; Nhlanhla Mahlangu leitet das südafrikanische Vokalensemble, ist Teil des Männer-Quartetts. Am Ende ist alles verschwunden, das Museum ist zusammengefallen, nur der Bergarbeiter in seiner Grube hämmert unbeirrt weiter. Es folgt eine unnötige Pause, das Festwochenvolk begibt sich fröhlich plaudernd an die Bar, schlürft den Weißwein. Offenbar soll die Zeit vergehen, damit das Publikum auch mehr als eine Stunde bekommt für sein Geld. Die Stimmung ist jedenfalls futsch.
Doch, wenn alle Handys wieder eingesackt sind und Stille eintritt, sorgt die erste Szene des zweiten Teiles, der Oper, rasch wieder für Atmosphäre. Der Moment ist doch noch nicht vorbei, wir warten auf die Sibylle (Waiting vor the Sibyl). Davon existierten in der griechisch-römischen Antike mehrere, es waren eine Art von Wahrsagerinnen, Prophetinnen, die in die Zukunft blicken konnten, Fragen nach dem eigenen Schicksal beantwortet haben. Die Sibylle, auf die gewartet wird, hat die Antworten auf Eichenblätter geschrieben und vor ihre Höhle gelegt. Doch bevor der / die Fragende sie abholen konnte, kam ein leichter Wind auf, wirbelte die Blätter durcheinander, wessen Schicksal wurde da vorausgesagt? Niemand kann sicher sein, was die Zukunft bringt.Kentridge entblättert natürlich keine Eiche, zeichnet sie lieber als riesigen Baum, Wunschbaum, Zauberbaum, der sich (Film im gesungenen Theater) zu drehen beginnt, eine Maschine wird sichtbar, eine menschliche Silhouette, ein Schatten. Heute sind die Blätter aus Papier, sie werden im Eiltempo produziert und ebenso durcheinandergewirbelt wie einst vor dem Unterschlupf der weisen Frau. Allerdings, weise war / ist diese Sibylle nicht. Sie produziert Merksätze und Ratschläge, Scherze und Rätsel. Verschmitzt verbirgt sie den Ernst hinter Ironie und Humor. „Wirf die Socken von gestern weg!“, „Verabschiede dich von den gestrigen Hoffnungen!“, „Lasst uns sensibel sein!“
Die erwartete Sibylle ist da, steht auf ihrem Podest und sagt kein Wort, drückt alles, was es zu sagen gibt, mit dem sich biegenden und wiegenden Körper aus. Begleitet wird sie vom Ensemble aus Tänzer:innen, Sänger:innen, Darsteller:innen. Auch Pianist Shepherd ist wieder dabei und Mahlangu leitet den Gesang in verschiedenen Bantu-Sprachen. Das Bühnenbild selbst ist sparsam, die Kostüme filmgerecht und die Schattenspiele im Hintergrund verblüffend. Die riesigen schwarzen Schatten der Agierenden sind gemalt, doch völlig synchron mit den Bewegungen auf der Bühne. Manchmal sehen wir den Rücken dieser projizierten Schatten. Erstaunlich.
Eine bunte Reihe von Szenen rollt unter Musikbegleitung ab, zirkusartig fröhlich, dramatisch und eindringlich. Zu viel wird das niemals, William Kentridge ist ein Ökonom, er weiß, wann es zu viel wird, immer wieder gibt er als Regisseur Zeit zum Nachdenken. Er weiß, wann Schluss sein muss. „The Moment Has Gone“ steht auch ungeschrieben über der letzten Szene. Längst hat sich der Schöngesang in Chaos und Stimmengewirr aufgelöst, der Raum ist leer, ein Darsteller versucht, lebendig zu bleiben, turnt und sucht eine Sitzgelegenheit, die nicht einbricht. Es gibt sie nicht mehr, bevor das Vorhangpaneel fällt, liegt auch auf er auf dem Boden. Die Sibylle war da, hat Sinn und Unsinn gesprochen, hat hoffentlich vorausgesagt, was wir noch verhindern können, dass sich alles, was da kreucht und fleucht, wächst und blüht, im schwarzen Staub verschwindet.
Die den Vorhang ersetzende abschließende Tafel senkt sich, zeigt noch einmal den Wunschbaum. Hoffnungsbaum?
Festspieljubel wie üblich.
William Kentridge, 68, bleibt sich treu. Wie immer und immer wieder genossen, zeigt er seine ganz persönliche Art von Theater, eine Kreuzung von bildender Kunst, Film, Theater und Musik. Vielfältig, jedoch nie zu viel, komplex, doch eingängig und verständlich, ernsthaft, aber nicht bedrohlich, ironisch, witzig, überraschend und fröhlich, niemals dummzotig. Ein magisches Panorama, vollgepackt mit Ideen und Esprit, der überschäumenden Lust am Spiel und mit Gedanken, die mit nachhause genommen werden dürfen und auch der überschäumenden Lust am Spiel. Kentridge manipuliert und indoktriniert nicht.
Die Offenheit und die humanistische Sicht der Welt hat er im Elternhaus mitbekommen. Die Familie, mit litauisch-jüdisch Wurzeln, lebt in Johannisburg. Die Mutter, Felice, war Mitbegründerin des Legal Resources Centre; der Vater., Sydney, war unter anderem Verteidiger im Treason Trial. Der Sohn hat Politik und Afrikanistik in Südafrika und Europa studiert und bei Jacques Lecoq in Paris gelernt. So vielfältig wie seine Werke sind seine Tätigkeiten: Schauspieler, Designer, bildender Künstler, Theaterregisseur, Filmemacher. Kentridge war bereits 2013 im ImPulsTanz Festival mit der theatralischen Tanzoper Refuse the Hour zu Gast in Wien. 2014 hat er für die Wiener Festwochen Schuberts Winterreise inszeniert und den Liederzyklus live mit Zeichnungen in einen neuen Rahmen gestellt. Bei den Salzburger Festspielen hat er 2017 die Oper Wozzek von Alban Berg inszeniert, zugleich das Making off im Rupertinum gezeigt und auf dem Mönchsberg (beide Orte ergeben das Museum der Moderne Salzburg) war neben der erweiterte Kentridge-Werkschau aus der Londoner Whitechapel Gallery die großartige, unvergessliche Multimedia-Installation The Refusal of Time zu sehen. „Wunderkammern aus Südafrika“ hat damals die APA (Austria Presse Agentur) das bildnerische Werk Kentridges genannt. Eine Wunderkammer ist im Grunde sein gesamtes Œuvre.
William Kentridge: Sibyl (The Moment Has Gone / Waiting For The Sibyl). Im Rahmen der Wienern Festwochen, MuseumsQuartier, Halle E, 19., 20.6. 21.6., 16 Uhr + 18 Uhr.
Konzept, Regie: William Kentridge, Chorkomposition, Mitarbeit Regie: Nhlanhla Mahlangu , Komposition, Musikalische Leitung: Kyle Shepherd.
Schnitt, Compositing: Žana Marović , Kostüme: Greta Goiris, Bühne: Sabine Theunissen, Licht: Urs Schönebaum, ´Mitarbeit Licht: Elena Gui; Ton Gavan Eckhart, Kinematografie: Duško Marović, Kamera: Kim Gunning.
Von und mit Kyle Shepherd, Nhlanhla Mahlangu, Xolisile Bongwana, Thulani Chauke, Teresa Phuti Mojela, Thandazile “Sonia” Radebe, Ayanda Nhlangothi, Zandile Hlatshwayo, Siphiwe Nkabinde, S’busiso Shozi.
Musemquartier, Halle E, 19., 20., 21. Juni 2023 im Rahmen der Wiener Festwochen.
Ein Auftragswerk von Teatro dell'Opera di Roma, Les Théâtres de la Ville de Luxembourg, Dramaten (Stockholm). Produktion THE OFFICE performing arts + film Internationale Repräsentation Quaternaire (Paris). Uraufführung September 2019, Teatro dell'Opera di Roma.
Fotos. © Stella Olivier