Was wäre, wenn – eine choreografische Studie
Mit ihrem im Herbst 2023 als Teil ihres aktuellen Research-Projekts Untitled landscapes uraufgeführten Solo Dance is the archeologist, or an idol in the bone war DD Dorvillier, nach Stationen in Spanien, Frankreich, der Schweiz und New York, Ende Juli zu Gast bei ImPulsTanz. Die sehr persönliche Studie über die Oberflächen und Tiefen des (eigenen) Tanzes berührt nicht nur dank der einnehmenden Präsenz der Choreografin, die sich hier „Schicht um Schicht“ zu sich selbst und all ihren Möglichkeiten tanzt.
DD Dorvillier zählt zu den wichtigsten US-amerikanischen Choreografinnen der Gegenwart. Die seit 2010 in Frankreich lebende Künstlerin gründete vor bald 35 Jahren in Brooklyn mit der Tänzerin und Choreografin Jennifer Monson die Matzoh Factory, die zu einem zentralen New Yorker Ort des interdisziplinären künstlerischen Austauschs wurde, bei dem Proben neben Partys, Lesungen neben Performances standen und sich Musiker:innen mit Choreograf:innen, Tänzer:innen mit bildenden Künstler:innen trafen. Seit bald 15 Jahren in Europa ansässig, ist DD Dorvillier dieses Jahr das 20. Mal bei ImPulsTanz zu Gast. Begann die Zusammenarbeit 2004 mit ihrem ersten Workshop, Creative Process, Skinner Release Technique, folgte zwei Jahre später mit No change or „freedom is a psycho-kinetic skill" die erste Einladung des Festivals an Dorvillier und das von ihr gegründete Label Human Future Dance Corps. Seither war sie mit sieben weiteren Workshops, vier Produktionen und seit 2007 drei Research-Programmen in Wien zu Gast, 2008 war DD Dorvillier zudem DanceWEB-Mentorin. Anlässlich ihres 20. ImPulsTanz-Jahres ist die Performerin 2024 mit einem sehr persönlichen aktuellen Projekt zu Gast, Dance is the archeologist, or an idol in the bone. Im Vorfeld wurde mir erzählt, dass es sich bei dieser Arbeit um eine „Lecture“ handeln würde, und so bin ich mit dieser Annahme auch in das Schauspielhaus Wien gegangen. Und wirklich: DD Dorvillier kommt, nach einigen Minuten des Wartens bei hell erleuchtetem Saallicht, auf die Bühne, positioniert sich rechts hinten neben die Treppe, über die sie eben die Bühne betreten hat – und: schweigt. Sie beginnt, ihre rechte Hand zu einer Faust zu ballen, dann zu kreisen, irgendwann folgt auch ihre linke Hand, schließlich der ganze Körper der Tänzerin, ehe sie die Frage „What if“ stellt. Es bleibt der einzige Satz, den DD Dorvillier in der rund 40-minütigen Arbeit sprechen wird, ergänzt von einzelnen Begriffen, die immer wieder, fein dosiert, neue Perspektiven der Betrachter:innen auf das Gesehene bieten. Was wäre, wenn … wenn dieser Körper Möglichkeiten hätte, die er einfach nur wahrzunehmen bräuchte. Einer Archäologin gleich studiert die Tänzerin vorhandenes „Material“ (den eigenen Körper), werden ihre Bewegungen zu jenen „Fundstücken“, an denen sie sich, ganz Forscherin, entlang arbeitet. Etwa, die Stimme zu erheben – DD Dorvillier tut es, schreit schrill auf, krächzt, zirpt – oder den umgebenden Raum zu begreifen – DD Dorvillier tut es, berührt eine der Bühnenwände, nimmt eine Stange an der Wand in ihre Hände, lehnt Kopf und Körper daran. Mit der Zeit und den sich mehr und mehr „anhäufenden“ Bewegungsabläufen wird der eigene Körper und das, was er produziert, zum Impulsgeber, wird sein „Sound“ zum „Soundtrack“ der folgenden Passagen der Performance. Nach rund 20 Minuten endet die Choreografin diesen Ablauf abrupt. Sie kehrt zurück an dieselbe Position, an der der Abend begonnen hat. Die Lecture kann beginnen. Nun wird sie sprechen. Das Gesehene für uns reflektieren, theoretisch aufladen – Dorvillier tut jedoch nichts dergleichen. Sie beginnt stattdessen mit denselben Gesten, dem Drehen und Kreisen der Hand, dann des Armes, schließlich erneut des Körpers. Für Momente glaubt man, nun den exakt gleichen Ablauf noch einmal mitzuerleben. Bald jedoch wird klar: Der Sound des gesamten ersten Teils der Performance gibt in diesem zweiten Teil den Ton an. Dorvilliers quietschendes Schieben der Turnschuhsohlen über den Boden, andere, fast unmerkliche Körperklänge, dann ihre lauter werdende, sich variierende Stimme begleiten die folgenden Bewegungen, die ähnlich wirken und doch in keiner Weise mehr jenen der ersten Hälfte gleichen. Was wäre, wenn ... wenn die Dinge sich nicht wiederholen würden, immer wiederholen würden, sondern sich verändern dürften, „what if“ – „water“, antwortet die Tänzerin, an anderer Stelle verstehe ich „bomb“ (und denke, ich könnte auch, weil es mir so nah an dem erscheint, was ich sehe, „womb“ gehört haben).
Schneller und schneller werden die sich variierenden Abläufe, und auch wenn klar ist, dass sich eben nicht alles wiederholen wird, bleibt diese Erwartungshaltung, bleibt dieses „Ich weiß, wohin du jetzt gehen wirst, was du jetzt tun wirst“ ... was wäre, wenn ..., wenn es eben nicht so wäre: Dance is the archeologist ist eine intensive, hoch persönliche Studie über eben jene Archäologie des eigenen Körpers und seiner Erfahrungen und Möglichkeiten, seiner Erwartungen und, ja, auch enttäuschten Erwartungen. „Distance“, sagt die Choreografin gegen Ende – Distanz zu eben jenen Erwartungen, denen man sich so gerne ergibt. Stattdessen die sich wiederholende Frage: „What if.“ Noch ein letztes Mal geht DD Dorvillier an dieselbe Anfangsposition. Die Erwartung: ein dritter Durchgang. Was wäre, wenn ... stattdessen: Ende. Enttäuschte Erwartung kann einfach auch sehr erfüllend sein.
DD Dorvillier/human future dance corps (FR/US): Dance is the archeologist, or an idol in the bone. 21., 23.7.2024, Schauspielhaus Wien im Rahmen von ImPulsTanz 2024
Solo Performance: DD Dorvillier; Sound: Sébastien Roux; Licht: Madeline Best; künstlerische Kollaboration: Mathieu Bouvier; Produktion: Laura Aknin (mit Unterstützung von Elise Rimbault); Praktikant:in: Hsin-Yu Tai;
Fotos: © Natalia Benosilio, La Caldera