Choreograf Radouan Mriziga im Tanzquartier
Eins, zwei, drei – Sonne, Mond und Erde, eine Trilogie. Drei mal drei – Raum, Musik, Körper -, neun Komponenten für drei Tänzerinnen. Radouan Mriziga spielt mit der Trias, der Dreiheit, die in allen Religionen den Göttern zugeordnet ist, wenn er seine Werke konstruiert. Der in Brüssel lebende Tänzer ist Choreograf und wird im November mit der Mondgöttin ins Tanzquartier kommen. „Ayur“ nennt er das Mittelstück seiner neuen Trilogie, einer Trias aus Architektur, Tanz, Musik / Text.
Mit silbrig schimmerndem Lockenhaar taucht die zierliche Tänzerin und Schauspielerin Sondos Belhassen aus dem Nichts auf und bemächtigt sich der Architektur, die als offener Dodekaeder die Bühne beherrscht. Die vertikale Konstruktion wiederholt sich als Zeichnung horizontal auf dem Boden. „Der Raum, in dem sich der Körper bewegt, ist für mich wichtig“, erklärt Mriziga. „Die Architektur spielt immer mit, wenn ich eine Choreografie entwickle.“ Die Trilogie wählt er als Form, weil es ihm „schwer fällt einfach aufzuhören. So habe ich die Möglichkeit meine Gedanken fließen zu lassen und muss nicht gleich ein Ende finden. Die drei Teile ermöglichen es mir, über einen längeren Zeitraum an einem Thema zu arbeiten. Ich springe nicht gerne von einem Thema oder einer Kreation zur nächsten. Diesmal wollte ich die Arbeit auch auf den drei Göttinnen und dem Planetensystem aufbauen: Tafukt, Ayour, Akal / Sonne, Mond und Erde.“
Der Choreograf Radouan Mriziga, geboren 1985 in Marrakesch, hat sich schon als Heranwachsender dem Tanz verschrieben: „Der Körper und der Tanz speichern alles Wissen, auch Wissen, das nicht aufgeschrieben ist.“ Begonnen hat er, wie viele Buben und immer mehr Mädchen, auf der Straße, Streetdance, Hip Hop oder Breakdance. „Straßentänze und andere nicht institutionalisierte Kunstformen werden von den akademischen Ausbildungsstätten oft übersehen. Da gäbe es noch viel zu entdecken und ich glaube, dass das Bewusstsein sich allmählich ändert und begriffen wird, wieviel Wissen im Street Dance geborgen ist“ Seine Ausbildung hat Mriziga in seiner Heimatstadt begonnen: „In Marrakesch gibt es kaum eine Tanzausbildung wie in Europa. Die Tanzkultur ist bei uns eine andere, wir tanzen alle, aber als Bühnenkunst ist der Tanz nicht gefragt.“ Deshalb studierte er in Tunis weiter, setzte dann nach Frankreich über und landete schließlich im Mekka des zeitgenössischen Tanzes, Brüssel. „Ich habe mein Wissen ständig erweitert, zu zeitgenössischem afrikanischem Tanz ist der europäische gekommen, auch mit der deutschen Tanzmoderne habe ich mich beschäftigt und natürlich alles, was ich in Brüssel in Anne Teresa De Keersmakers Schule P.A.R.T.S bekommen habe.“ 2012 hat er sein Diplom bekommen und beschlossen, in Brüssel zu bleiben. Nach einer dreijährigen Residenz im dortigen Kaaitheater wird Mriziga Artist in Residence im Antwerpener Theater deSingel sein. Dennoch ist er seiner Heimat und dem nordafrikanischen Raum treu geblieben: „Mich interessiert die Dynamik des Mittelmeerraumes. Seine interessante geographische Lage hat zu zahlreichen Austauschmöglichkeiten zwischen Nordafrika, Südeuropa und Westasien geführt. Unsere Geschichtsbücher konzentrieren sich aber hauptsächlich auf die Griechen, Ägypter und Araber, während die Imazighen, die doch eine grundlegende Rolle in dieser Region gespielt haben, an den Rand gedrängt worden sind und im kulturellen Gedächtnis nicht vorhanden sind.“Auch wenn Radouan Mriziga alles andere will, als zu belehren, ist jetzt eine kurze Unterrichtsstunde fällig. Wer sind die Imazighen? Kurz gesagt: Die Ureinwohner Nordafrikas: Imaziaghen ist das Mehrzahlwort, ein Einzelner ist ein Amazigh (Amazighs ist eine im Deutschen gebräuchliche Mehrzahl). Radouan Mriziga weiß, wovon er spricht, wenn er von der indigenen Bevölkerung spricht, die das Erbe des vorislamischen Afrika fortführt: Er ist selbst ein Amazigh, Barbar (arabische Übersetzung von Amazigh), ein Berber: „Meine Großmutter konnte kein Arabisch, sie hat nur Tamazight gesprochen. Das war aber in Marokko lange Zeit verboten.“ „Die Kultur der Imazighen war matriarchalisch, Wissen und Kunst wurden vor allem mündlich weitergegeben. Schriftliche Aufzeichnungen gibt es nur wenige. Wir sind zwar noch immer marginalisiert, aber die Lage bessert sich, rein rechtlich sind wir als Ethnie anerkannt, Tamazight wird jetzt in der Schule unterrichtet.“
Und wie kommen die Imazighen in die Choreografie? „Als ich mich für den letzten Teil meiner ersten Trilogie, mit den sieben Weltwundern beschäftigt habe, sind mir die drei Göttinnen, Nithe, Tanit und Athena begegnet. Die Göttin Nithe soll am Tritonsee in Libyen geboren worden sein und sich zu Tanit entwickelt haben. Auf ihrem Weg von Ägypten nach Griechenland ist sie zu Athene geworden, die oft auch mit einem Mond abgebildet wird. Tanit ist die zentrale Figur im 2. Teil der Trilogie, im 3., ‚Akal‘, Erde auf Tamazight, ist es Neith, die altägyptische Göttin für Geburt und Tod. Sie führt die Seelen in die Unterwelt.“ Die aus Ruanda stammende Tänzerin und Choreografin Dorothée Munyaneza, durch ihre Auftritte bei ImPulsTanz 2018 und den Wiener Festwochen 2015 auch in Wien bekannt, wird Neith tanzen. Im zweiten Teil der Trilogie, „Tanit, The Moon, Ayur“, tanzt die tunesische Schauspielerin und Tanz-Pionierin, Sondos Belhassen, die Rolle der Mondgöttin. „Sie war meine Lehrerin, als ich in Tunis studiert habe.“
Der Choreograf, ein beeindruckender Mann mit dichtem Lockenkopf und Bart, und die „eine Tänzerin im Kino“ (Selbstbeschreibung von Belhassen, die in Tunis auch eine berühmte Filmschauspielerin ist), eine zarte Frau mit langen silberhellen Haar, strahlen einander an. Man hört förmlich die Herzen im gleichen Takt schlagen. Die Bühnenkünstlerin wird nicht nur tanzen, sondern auch tunesische Poesie und Rap auf Arabisch vortragen. Das Publikum im Tanzquartier wird die Texte aber nicht verstehen? „Das macht nichts“, sagt der Choreograf, „die Verse sind wie Musik, es geht weniger um die Inhalte als um Melodie und Poesie. Es sind aktuelle Texte, doch arabische Poesie ist schwer zu übersetzen. Auf dem Umweg über Englisch gibt es eine deutsche Version zur Unterstützung. Ich meine, man versteht die Atmosphäre, die ich geschaffen habe, auch wenn man die Wörter nicht versteht.“
Im Lauf des Gesprächs nach der Premiere in Berlin kommt Mriziga immer wieder auf das zentrale Thema seiner Choreografie-Trilogie zurück: „Ich will nicht von der Vergangenheit erzählen, die Kultur der Imazighen ist ein Ausgangspunkt für mich, doch sie steht nicht im Mittelpunkt. Ich lenke den Blick nur auf die Unterdrückung in der Vergangenheit, um von einer neuen Zukunft zu träumen. Einer universellen inklusiven Zukunft für die Welt.“
Auch Mriziga und sein Team waren nach der Uraufführung 2019 in Tunis von den Pandemie bedingten Absagen betroffen. Endlich, im Berliner Festival Tanz im August 2021, konnten die Techniker den luftigen Pavillon der Göttin wieder aufbauen und die geometrischen Zeichnungen auf dem Boden anbringen. In der säkularisierten Sophien-Kirche verschmilzt Startänzerin Sondos Belhassen als Mondgöttin „Wehende Worte“ (Gedichttitel) der tunesischen Poetin Lilia Ben Romdhane, rhythmische Texte des Rapers Mehdi Chammem „Massi“, Architektur und die Bewegungen ihres Körpers zu einem schimmernden Netz. Das gesamte komplexe Konzept des Choreografen Radouan Mriziga, Mathematik und Geometrie, Philosophie und Geschichte verblassen, die Tänzerin schlägt mit Gesten und Worten das Publikum in Bann. Emotionalität besiegt Rationalität, Zeit und Raum sind aufgehoben, sinnliche Erlebnisse im Mondenschein stehen bevor.
Radouan Mriziga Choroegrafie:
„Ayur (Mond)“. Tanz und Schauspiel Sondos Belhassen; 12. + 13.11., 2021, Tanzquartier
„Akal (Erde)“. Tanz Dorothée Munyaneza. 28. + 29.1.2022, Tanzquartier
Fotos: © Dajan Lothert
Das Gespräch mit Radouan Mriziga und Sondos Belhassen habe ich während des Festivals Tanz im August 2021 in Berlin geführt. In gekürzter Form ist der Artikel am 22. Oktober 2021 im Kulturmagazin der Tageszeitung Die Presse erschienen.