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The Canadian National Ballet zu Gast in Hamburg

"Emergence", der Schwarm von Chrystal Pite. © Kiran West

Bei den von John Neumeier zu Saisonabschluss alljährlich veranstalteten Balletttagen ist jedes Mal auch eine Gastcompagnie zu sehen. 2018 ist es das kanadische Nationalballett aus Toronto, das mit drei unterschiedlichen zeitgenössischen Choreografien das Publikum begeistert.

National Ballet of Canada: "The Dreamers Ever Leave You" © Karolina KurasDas Eröffnungsstück des dreiteiligen Abends, „The Dreamers Ever leave You“, dient quasi zum Aufwärmen. 13 Tänzer*innen zeigen, wie diszipliniert und beweglich sie sind. Zur Musik des ukrainischen Komponisten Lubomyr Melnyk, von ihm selbst am Klavier interpretiert, hat sich der junge kanadische Choreograf Robert Binet von einem Landschaftsbild des kanadischen Malers Lawren Harris inspirieren lassen. Gestreckte Beine, hochgereckte Arme, vibrierende Körper formen sich in unaufhörlichem Fluss zu einer eindrucksvollen Geometrie. Lubomyr Melnyk, ein Einzelgänger aus der Ukraine, endlich 2017 durch einen Auftritt in der Hamburger Elbphilharmonie auch in Europa angekommen, rühmt sich, die „continual music“, eine neue Sprache für das Piano, erfunden zu haben. Die rauschenden Klänge, durch den Dauereinsatz der Pedale erzeugt, erinnern an Philipp Glass und Steve Reich und wirken trotz des Auf- und Abschwellens des „Klanguniversums, zu das nur Melnyk selbst Zugang hat“, wie er sagt, ziemlich schal, langweiligen bald. James Kudelka: "The Man in Black". Cowboystiefel zur Musik von Johny Cash. © Kiran West Es ist der Showeffekt, der das Publikum begeistert, der Choreografie des erst 27jährigen Binet schaden die flachen Klänge mehr.

Mit der köstlichen Interpretation von sechs Liedern des Countrysängers Johnny Cash erobert der kanadische Meisterchoreograf und ehemalige künstlerische Leiter der Compagnie, James Kudelka, im Sturm das Publikum. Das Quartett – eine Tänzerin, drei Tänzer – ist auch zu possierlich, wenn es hüftenschwingend in Cowboystiefeln über die Bühne walzt oder diese, angeführt von der Tänzerin, im Gänsemarsch überquert. Ausgelassene Melancholie bei "The Man in Black". Jenna Savella tanzt mit Jonathan Renna, Piotr Stancyk und Robert Stephen Cash (1932–2003) langweilt nie, seine tiefe Stimme schleicht sich ins Gemüt, die geworfenen Hebungen der Männer, Kreistänze und verschränkte Arme lassen an Rock‘n Roll und Linedance denken,  versetzen Großmütter und -väter in ihre Jugend zurück. „The Man in Black“, der Titel der 2010 entstandenen Choreografie, bezieht sich wohl auf den Sänger selbst als auch auf seinen gleichnamigen Hit von 1971. 20 effektvolle, melancholische Minuten, die das Publikum von den Sitzen reißen.

Spannend aufgebaut haben John Neumeier und die ehemalige Erste Solistin und aktuelle künstlerische Leiterin des Canadian National Ballet, Karen Kain, diesen Gastspielabend: Das letzte Stück „Emergence“ (Auftauchen, Erscheinen) von Crystal Pite ist der Höhepunkt des Abends. "Emergence" von Chrystal Pite: Insekten sind bestens organisiert. ©  Kiran WestDie auch in Europa bestens bekannte Choreografin, ehemalige Tänzerin in William Forsythes Frankfurt Ballett und 2017 mit dem Prix Benois de la Danse ausgezeichnet, lässt 38 TänzerInnen ausschwärmen und als Insekten in einer nur schwach beleuchteten Höhle kriechen, schwirren, flattern, kämpfen, lieben, die Königin wählen. Pite bezieht sich mit ihrer schönen Choreografie auf ein populärwissenschaftliches Buch über Insektenvölker und ihre vernetzte Organisation und der Schwarmintelligenz und ihre Verbindung zum menschlichen Verhalten. Der stimmungsvolle Sound von Owen Belton – Summen und Knacken der Kerotinpanzer, Flügelschalen und militärische Stakkato Töne – unterstreicht die Bewegungen des Insektenvolkes. Der weibliche Schwarm tanz auf Spitze, auch der männliche erhebt sich immer wieder auf die Fußspitzen und wirbt um das andere Geschlecht. Ein von der Sonne erleuchteter Tunnel führt in die Höhle, in der das Insektenvolk sich synchron bewegt, schön getrennt nach Geschlechtern. "Emergence": Paarungsritual im Insektenstaat. © Kiran WestWer aus der Gruppe ausschert, wird bald wieder hereingeholt. Am Ende wird die Königin gekrönt. Eine eindrucksvolle Metapher für menschliches Verhalten, ein choreografisches Feuerwerkt, von den überaus geschmeidigen Tänzer*innen aus Toronto in perfekter Präzision ausgeführt.

John Neumeier ist seit langem mit dem kanadischen Nationalballett verbunden, die Compagnie war 2013 die erste außerhalb Hamburgs, der er sein Ballett „Nijinsky“ anvertraut hat. Schon 2008 hat er in Toronto sein feines Ballett nach Tschechows Theaterstück „Die Möwe“ einstudiert. The National Ballet of Canada ist eine klassische Compagnie, in deren Repertoire sich von „Nussknacker“ bis „Dornröschen“ sämtliche Petipa / Tschaikowsky-Ballette finden, aber auch George Balanchine, John Cranko, Frédéric Ashton, Jiří Kylián und natürlich Rudolf Nurejew. Mit Nurejew in der Titelrolle hat Neumeier bereits 1972 seine erste Choreografie für die Kanadier*innen geschaffen: „Don Juan“. Besonderen Wert legt jedoch Ballettchefin Kain auf die Pflege nationaler und internationaler junger Choreografen, mit deren Kreationen die Company auch in den USA und in Europa gastiert.
Nichtenden wollender Applaus beendete den interessanten Abend mit den Gästen aus Kanada.

The Canadian National Ballet  mit drei zeitgenössischen Choreografien, im Rahmen der 44. Hamburger Baletttage, 3., 4. Juli 2018, Staatsoper Hamburg.