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John Neumeier: „Illusionen – wie Schwanensee“

Edvin Revazov, der König; Alina Cojocaru als schwarzer Schwan. © Kiran West

Von der „unverwirklichbaren Liebe“ erzählt John Neumeier in seiner 1976 entstandenen Interpretation des Ballettklassikers „Schwanensee“. Auch mehr als 40 Jahre danach hat die Erzählung vom unglücklichen König, der seine Lieben – zur Kunst und zu einem Mann – nicht ausleben darf, immer noch ihre Gültigkeit, lässt staunen, rührt ans Herz. Es sind Menschen von heute, die Neumeier auf die Ballettbühne bringt. Im Rahmen der Hamburger Balletttage 2018 konnte das minutenlang geradezu tobende Publikum das wieder feststellen.

Edvar Reazov tanzt den unglücklichen König. Sensibel und elegant.. © Kiran WestNeumeier ist ein begnadeter Geschichtenerzähler, in den Figuren, denen seine Choreografie Leben einhaucht, findet jede und jeder eine, mit der sie / er sich identifizieren kann. Der Prolog zeigt das Ende: „Der König“ ist bereits entthront, eingesperrt in eine kleine Kammer versucht er sich an die schönen Tage zu erinnern, träumt von Dorffesten und privaten Ballettaufführungen, wird zu Siegfried, dem ebenfalls unglücklichen Prinzen aus dem Märchenballett „Schwanensee“.

Doch schon mit der „ersten Erinnerung“, an das Richtfest für das vom König selbst entworfene Schloss Neuschwanstein wird das Publikum in fröhliche Stimmung versetzt. Niedliche Mädchen tanzen Ringelreihen, die kleinen Buben raufen, die großen Männer rangeln, die Kinder spielen Sackhüpfen und purzeln übereinander. Die höfische Gesellschaft tritt auf, allen voran des Königs Mutter. Das Verhältnis ist klar: der König kann den Boxhandschuh nicht abstreifen, die Mutter wendet sich angeekelt ab.  Erinnerung: Der König denkt an seine Krönung. © Kiran West

Auch wenn die Hauptfigur nicht namentlich genannt ist, weiß man, dass König Ludwig II. von Bayern gemeint ist. Er liebte die Kunst, auch das Ballett, Richard Wagner und dessen Musik, mit der Frauenliebe konnte er jedoch wenig anfangen, seine Braut, Natalia, bleibt ungeküsst, Ludwigs Begehren galt Männern. Neumeier gliedert den Ablauf in ein Wechselspiel von „Wirklichkeit“ und „Erinnerung“, die aus der Fantasie auftauchen. Am Ende wird klar: Die Wirklichkeit, das ist das Gefängnis; die Fantasie (Erinnerung) ist das Leben.

"Illusionen – wie Schwanensee", von der  "unverwirklichbaren Liebe". © Kiran WestIn der Kammer, in die ihn die Intriganten, Neider und Emporkömmlinge verbannt haben, steht ein Papiertheater, die Szene stammt aus „Schwanensee“. Ludwig erinnert sich an eine Privataufführung und möchte Siegfried sein, der ewige Liebe schwört. Ganz köstlich, nahezu parodistisch hat Neumeier diesen Siegfried, den Prinzen im Ballett gestaltet. In seinem babyblauen Anzug mit blondem Schopf und Bart sieht er eher dem wagnerschen Siegfried aus dessen Ringtrilogie ähnlich. Doppelbödig ist ja Neumeier meist, oft gibt es drei, vier Böden, die wir entdecken können. So ist auch Wagners Siegfried ein Betrüger, schwört, wie der Prinz von Petipa/Iwanow einer die Treue und nimmt eine andere und Ludwig hat auch eine Verlobte, die ihm bis zum Ende die Treue hält, auch wenn sie längst weiß, dass aus einer Ehe nichts werden kann. Prinz Siegfried ertrinkt in den meisten europäischen Choreografien von „Schwanensee“, auch in der Wiener von Rudolf Nurejew, im See. Ludwig stirbt auf die gleiche Weise. Absicht oder Unfall? Man weiß es bis heute nicht. Für Neumeier jedenfalls Gelegenheit, auch seinen König unter blauen Tuchwellen sterben zu lassen.In den "weiße Akten" hält sich Neumeier an lew Ivanov, den ersten Choreografen des Balletts "Schwanensee". © Kiran West

Wie so oft bei Neumeier, hat auch der König einen Begleiter, den „Mann im Schatten“, ein dunkler Clown, ein hilfsbereiter Page, ein Mahner und Freund, ein Liebhaber und der Tod, mehr tröstend als grausam. Marc Jubete ist dieser Mann im Schatten, der stets unerwartet zur Stelle ist. Einmal charmant und verbindlich, dann wieder drohend und unerbittlich. In den „weißen Akten“, die Neumeier ganz im Sinne der beiden Choreografen Marius Petipa und (vor allem) Lew Iwanow inszeniert, ist er natürlich Rotbart, der die Schwanenprinzessin für sich haben will. Anna Laudere ist diese anmutige Schwanin Odette, anmutig und melancholisch von Beginn an. Sie kennt die Männer, Liebe und Treue sind ihnen fremd. Schwan bleibt Schwan.

Das verliebte Paar, Graf Alexander, Prinzessin Claire (Christopher Evans, Fiorencia Chinellato). © Kiran WestAls Gast tanzt Alina Cojocaru (ehemalige Erste Solistin im Royal Ballet) Natalia, die ungeliebte Verlobte des Königs. Immer noch ist sie eine umwerfende Technikerin, wirft ihre 32 Fouettés (oder sind es doppelt so viele?) bis in die ersten Reihen und zeigt keinerlei Müdigkeit. Am Ende, der Lebensfaden Ludwigs ist bereits am Zerreißen, entthront fristet er seine Tage im Gefängnis, versucht sie noch einmal, ihn durch ihre unverbrüchliche Liebe zu retten. Nach einem letzten Blick auf den desinteressierten, geradezu abweisenden Bräutigam, schleicht sie gebrochen aus der Kammer. Man möchte mit ihr trauern. Diesem Pas de deux hat Neumeier die Elegie aus Tschaikowskys Schauspielmusik zu „Hamlet“ unterlegt und ihn so gebrochen oder brüchig gestaltet, wie die Seelen der beiden Königskinder. Ludwig bleibt allein zurück. Ab jetzt quillt die Träne! Erinnerung an eine Aufführung des Originals. Anna Laudere ist Prinzessin Odette. © Kiran West

Edvin Revazov ist der König mit allen Facetten seines Mienenspiels, mit allen Haltungen des Körpers, mit allen Bewegungen der Gliedmaßen. Phänomenal! Revazov, einst bezaubernd und blutjung als Tadzio in Neumeiers Ballett „Der Tod in Venedig“, ist als „der König“ ein Mann, gar nicht mehr so betörend hübsch, der weiß, dass im Schatten schon der Tod steht, ein Mann, der an seiner „unverwirklichbaren Liebe“ zerbricht. Einfach großartig!

Zum Weinen schöne: Edvin Revazov, Alina Cojocaru. © Kiran WestAuch die anderen Solist*innen dürfen nicht unbeachtet bleiben: das zweite, glücklichere, Paar, Graf Alexander, Freund des Königs und dessen Braut, Prinzessin Claire, zeigt in heiterer Glückseligkeit eine perfekte Leistung: Solotänzerin Florencia Chinellato und der Solotänzer Christopher Evans (24) sind dieses fröhliche Paar. Chinellato ist als Claire ebenso junges Mädchen wie erwachsene Frau, die weiß, was sie will. Und es vermutlich auch bekommt. Doch darüber schweigt die Chronik. Nicht schweigen darf sie über das gesamte Ensemble, über Patrizia Friza als stolze Mutter des Königs, Carsten Jung, den ungeliebten Cousin Prinz Leopold und die Mädchen und Buben der Ballettschule des Hamburg Ballett. Die bezopften Dirndln und Buben in kurzen Hosen dürfen nach dem ersten Akt nach Hause gehen, oder mit Mutter und Großmutter den Rest des so schönen und so traurigen Spiels ansehen. Und auch das geniale, raschen Szenenwechsel erlaubende, Bühnenbild (samt den bunten und noch bunteren Kostümen) von Altmeister Jürgen Rose. Diese Fantasie, diesen Geschmack, dieses Bühnen-Know-how bringt heute kaum noch eine(r) zustande. Demnächst im August darf Rose seinen 81. Geburtstag feiern. Der König ertrinkt, der Tod trägt ihn empor. Ein fast tröstliches Ende. © Kiran West.

Der König ist entmündigt, auch die Würde hat man ihm genommen, der letzte Versuch der Braut Natalia ist misslungen, wenn jetzt die Türen aufgehen, kann nur noch der Tod hereinkommen, lautlos, geschmeidig, ein fescher Mann aus dem Schatten. Er ist es, der Ludwig rettet, ihn kopfüber aus den blauen Fluten rettet und empor hebt. Der König ist erlöst.

Hamburg liebt Neumeier und kann nicht aufhören, ihn wieder und wieder vor den Vorhang zu rufen. Auch Simon Hewett, der mit dem Philharmonischen Staatsorchester Hamburg (Solovioline Konradin Seitzer) Peter Tschaikowskys Partitur interpretiert hat, wird ausgiebig beklatscht. Ein Fest, das für mich nicht oft genug wiederholt werden kann.

John Neumeier „Illusionen – wie Schwanensee“, Musik: Peter Tschaikowsky, mit den rekonstruierten Choreografien von Marius Petipa und Lew Iwanow. Bühnenbild und Kostüme: Jürgen Rose. Musikalische Leitung: Simon Hewett. Hamburg Ballett mit Alina Cojocaru als Gast, Edvin Revazov, Marc Jubete. 160 Vorstellung seit der Premiere 1976, 5. Juli 2018 im Rahmen der 44. Hamburger Ballett-Tage 2018, Staatsoper Hamburg.