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Osterfestival Tirol – Tino Sehgal

Choreograf Tino Sehgal © Künstler

Ohne Titel (2000)“ nennt Tino Sehgal widerwillig seine 2000 als Solo entwickelte Performance, weil ein Titel einfach notwendig ist. Fünfzehn Jahre nach er Erstaufführung hat er die Choreografie mit drei Tänzern einstudiert. Im nahezu familiärem Rahmen des Osterfestivals Tirol ist Andrew Hardwidge, Frank Willens und Boris Charmatz ein großartiger und unterhaltsamer Vorstellungs-Hattrick gelungen.

Es ist immer wieder die selbe Choreografie und doch jedes Mal ein anderes, durch unterschiedliche Orte und auch das wechselnde Publikum verändertes, Stück. Tino Sehgal, der kurz nach der Uraufführung vom Tänzer zu bildenden Künstler gewechselt hat, wollte und will der Choreografie in drei Variationen gar keinen Titel geben. Doch wie Karten für eine Vorstellung ohne Namen verkaufen? Also ist die Absicht zum Titel geworden (was in der bildenden Kunst durchaus üblich ist). "Ohne Titel" ist Programm, gibt vor allem dem Publikum Freiheit der eigenen Interpretation. Übrigens erlaubt Sehgal auch keine Fotos (Archivierung) der ironisch auch "20 Minuten aus dem 20. Jahrhundert" genannten je etwa 40 Minuten dauernden Performances. Wer nicht dabei ist, braucht nichs zu sehen.

Im leeren weißen Raum der Innsbrucker Galerie Thoman bewegt sich Andrew Hardwidge als wäre er ein Schüler George Balanchines. Unbekümmert in fast kindlicher Nacktheit und bestens gelaunt, scheint er mit dem jungen weiblichen Publikum, das neugierig und entspannt auf dem Boden lümmelt, zu flirten. Präzise trennt Hardwidge die Zitate voneinander, ist ein wissender Führer durch die Eckpunkte der Tanzgeschichte (wie Sehgal sie subjektiv sieht) des 20. Jahrhunderts. Andrew Hardwidge © Sandro Zanzinger

Ebenso unkompliziert, doch mit vollem Krafteinsatz die von Sehgal gesammelten Zitate der Tanzchronik des 20. Jahrhunderts repetierend, zeigt sich Frank Willens im barocken Kaiser-Leopold-Saal der Universität Innsbruck. Er, der im Vorjahr, tapfer ausharrend, im eiskalten Nieselregen auf dem Schlammboden vor dem Museumsquartier getanzt hat, muss diesmal mit barockem Dekor konkurrieren. Doch es ist warm im Saal und die Sessel sind gepolstert.
Frank Willens, © Sandro  Zanzinger Willens ist ein muskulöser Tänzer, dem es nicht an Humor mangelt. Fröhlich begrüßt er Zuspätkommende und macht dem Publikum die Freude, wenn gesprochen werden soll (etwa im Trisha-Brown-Zitat von „Accumulation“ aus dem Jahr 1971), dies auf Deutsch zu tun. Und so müssen nicht nur die exakten energischen Bewegungen sondern auch das exzellente Deutsch des in Berlin lebenden Tänzers aus Kalifornien bewundert werden.

Auch Charmatz hat es nicht leicht in der unendlich weiten, hohen, leeren Halle, der Dogana, in der Messe Innsbruck. Dennoch hält auch er augenzwinkernden Kontakt mit dem Publikum, zeigt im Schnelldurchgang, ohne Zäsuren und kontemplative Pausen, die dritte Variation der Reise durch die Tanzchronik nach 1900, beginnend bei „Les ballets Russes“ bis zu Jérôme Bels „Jérôme Bel“ aus dem Jahr 1995. Boris Charmatz (am Tag der Aufführung jedoch mit Bart) © Sandro ZanzingerDamals verlangten die Bühnenarbeiter für das Aufwischen des live gespendeten Urins noch eine Gehaltszulage, heute wischen die Künstler selbst auf – So „la fontaine“ überhaupt gelingt. Die gelöste Atmosphäre des Osterfestivals hat es möglich gemacht: Es sprudelte spektakulär.

Was im Tanzquartier 2015, schwerblütig und ernsthaft, dem Publikum als heilige Last auferlegt worden ist, zeigt sich ein Jahr später in Innsbruck, trotz der dräuenden in Nebel gehüllten Berge, als lockerer Rundgang durch eine luftig gestaltete Ausstellung. Ein anderes Ambiente gebiert anderen Tanz. Die drei Tänzer stellen ihren eigenen Körper (im Nacktkostüm ohne Musik und Bühnenbild) samt ihrer Persönlichkeit in dieses imaginäre Tanzmuseum und zeigen, dass so ein Rückblick bei allem Respekt auch mit einem fröhlichen Zwinkern der Ironie möglich ist. Im richtigen Ambiente machen die Tänzer-Persönlichkeiten klar, dass Tanz und Humor einander keineswegs ausschließen. 

Eine Choreografie, drei Tänzer, drei Interpretationen an drei Orten: Ein Erlebnis.

Osterfestival Tirol: „(Ohne Titel) (2000)“, Choreografie: Tino Sehgal, Tanz: Andrew Hardwidge, Frank Willens, Boris Charmatz. Einmalige Performance am 12.3.2016