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Richard Siegal im Festspielhaus St. Pölten

Turbotanz in "Metric Dozen" (Nicha Rodboon, CoreyScott-Gilbert) © W. Hoesl

Mit zwei Stücken, dem kurzen Vorspiel „Metric Dozen, und „Model“, im Sommer 2015 uraufgeführt, krönte der Choreograf Richard Siegal mit Tänzer_innen des Bayerischen Staatsballetts und aus Marseille seinen Aufenthalt als Artist in Residenz im Festspielhaus St. Pölten. „Metric Dozen“, 2014 zum ersten Mal gezeigt, wurde mit heftigem Johlen und Klatschen bedankt. „Model“ ließ das Publikum etwa ratlos zurück.

Mit einem Knall wird es stockfinster. Auf der leeren Bühne bewegt sich ein Schatten, ein weißer Lichtpunkt erfasst die erste Tänzerin. Immer neue Figuren gesellen sich dazu, tanzen unter den einzeln aufleuchtenden des am Plafond hängenden Lichtbretts. Später wird es gleißend hell, um gleich darauf die Tänzer_innen wieder in braune Dämmerung zu tauchen. „Metric Dozen“ („metrisches Dutzend“ ist ein Begriff aus der Mathematik), für das Ballet National de Marseille geschaffen, ist eine 20 Minuten dauernde Tour de Force für zehn bestens trainierte Tänzer_innen in schwarzglänzenden Kostümen, neckischen Hotpants und lackledernen langärmeligen Jacken (Alexandra Bertaut). Zu elektronischen Klängen legen sie mit rasanten Bewegungen alles Menschenähnliche ab, sind jeder Individualität beraubt. Männer bewegen sich weich und hüftenschwingend wie Frauen, Frauen übernehmen die zackige, rasante Körpersprache der Männer und alle samt drehen, grätschen, hüpfen, steppen, kreisen den Po, klappen die gestreckten Arme auf und zu und knallen, vom elektronischen Beat angetrieben, zu Boden. Als würde eine fremde Macht ihre Körper, Tanzmaschinen gleich, in eine tödliche Spirale treiben. "Metric Dozen":  Schwindelerregend. © JC. VerchereDas unerwartete Ende, erinnert an William Forsythe: Katharina Christl (Ballettmeisterin und Tänzerin aus Marseille) steht allein an der Rampe, knickt ein Knie ein, geht gelassen nach hinten, bis das Dunkel sie verschluckt. Der faszinierenden Raum aus Klang (Komposition Lorenzo Bianchi Hoesch), Licht (Gilles Gentner) und Bewegung wird zum wirbelnden Strudel, der die Zuschauer_innen einsaugt. Nur durch heftige Jubelschreie können sie sich am überraschenden Ende daraus befreien.

Diese Sogwirkung hat „Model“ keineswegs. Die Choreografie ist der erste Teil einer geplanten Trilogie. Regisseur Johan Simons, für drei Jahre, 2015–2017) Intendanten der Ruhrtriennale hat sich den Dreiteiler von Siegal gewünscht. Bei der Ruhrtriennale 2016 soll der zweite Teil uraufgeführt werden, 2017 ist die Trilogie vollendet und Siegal wünscht sich seinerseits, dass dann alle drei Teile an einem Abend aufgeführt werden: „Das wird ein langer Abend.“ Die Struktur für den Dreiteiler liefert Dante Alighieris „Göttliche Komödie“. Siegal folgt dem Aufbau des Werkes: Inferno – Purgatorio – Paradiso. „Model“ ist also der Titel für die Hölle. Doch der Choreograf erzählt Dante nicht nach, auch „Model“ ist wie Siegals andere Werke eine abstrakte Choreografie,die ihre Längen und dramaturgischen Schwächen hat. Siegals präzise und radikale Bewegungssprache scheint verschmiert und verwässert, manche Passagen erinnern an das vor der Pause gesehene „Metric Dozen“, nur dass die Kostüme (Bertaut) heller sind, im fahlen Licht durch schuppenartige Oberteile mitunter die Tänzer_innen wie Skelette aussehen lassen, das Licht aber durch Stroboskopeffekte so gleißend ist, dass nur noch Schemen auf der Bühne zu erahnen sind.

Bayerisches Staatsballett in Siegals Hölle ("Model"). © Ursula KaufmannEindrucksvoll ist der Beginn, wenn die Verdammten sich im Kreis der Hölle unaufhörlich um sich selbst drehen. Die Eingangspassage wird gegen Ende wiederholt und das wäre ein eingängiger Schluss gewesen: Aus der Hölle gibt es kein Entkommen, das Ende ist der Anfang. Auf ewig verdammt. Doch Siegal will mehr und erschöpft damit sein Publikum. Es scheint als hätte es ebenfalls die Hoffnung aufgegeben aus dieser (elektronischen) Hölle, die vernehmlich durch den Komponisten Lorenzo Bianchi Hoesch erzeugt wird, zu entkommen. Eine Schweigeminute vor dem zaghaft anklingenden Applaus, zeugt von physischer (die Bässe hämmern ins Gedärm) und psychischer Erschütterung aber auch von Verwirrung und Entkräftung. „Gnade, Gnade“, wimmert die Tänzerin Christl im letzten Drittel der guten 40 Minuten, doch sie wird nicht gewährt.

Das Stück ist nicht aus und in gut forsythescher Manier (Siegal kann und will es nicht leugnen, dass er „Bills“ Schüler ist. "Model": :Das schlafende Gesicht – Hölle oder Paradies? © Ursula KaufmannSieben Jahre hat er Forsythes Frankfurter Company getanzt) erscheint das Gesicht eines schlafenden Babys und die Schrift an der Wand:
“…Für die Verworfenen die Hölle und, für die Erwählten, Paradies“.

Den immer wieder aufflammenden Text hat Siegal aus einem Gedicht von Jorge Luis Borges extrahiert. „Im klaren Spiegel (s)eines Traumes“ sieht der Dichter nicht nur Himmel und Hölle sondern „im Halbdunkel der Vergangenheit ein Gesicht, ein schlafendes Gesicht“, die bloße Betrachtung dieses Gesichts: 

„will be, for the rejected, an Inferno, 

and, for the elected, Paradise.“

Richard Siegal / Bayerisches Staatsballett: „Model“ („Metric Dozen“, „Model“), 16.1. 2016, Festspielhaus St. Pölten. Eine Produktion der Ruhrtriennale in Koproduktion mit dem Bayerischen Staatsballett und dem Muffatwerk München.