Wiener Staatsballett: "Die Schneekönigin"
Zur Musik Sergej Prokofjews erzählt der britische Choreograf Michael Corder Hans Christian Andersens Märchen von der „Schneekönigin“ als Ballett. In der an Hollywood-Märchenfilme erinnernde üppigen Ausstattung tanzt das Wiener Staatsballett in der Volksoper. Noch zehn Mal ist die eiskalte Könign nach der Premiere zu bewundern – der Publikumsansturm ist kaum zu bewältigen.
Im barocken Eispalast herrscht Olga Esina als herzlose Königin, bewacht von strengen Schneewölfen und verspielten Füchslein. Nahezu drei Stunden dauert es, bis das Herz des von ihr entführten Kay durch Gerdas unverbrüchliche Treue endlich geschmolzen ist und das junge Paar in die einfache Hütte heimkehren kann.
Eine andere Geschichte. Der britische Choreograf Michael Corder, geboren 1955, auf der Insel hochberühmt, hat seine Blütezeit als Choreograf im letzten Drittel des vorigen Jahrhunderts erlebt. Höhepunkt war wohl die Inszenierung von Prokofjews Ballett „Cinderella“, wofür er 1997 den Laurenc-Olivier-Preis erhalten hat. Auch für „Die Schneekönigin“ hat er (2007) Ballettmusik von Prokofjew (in der aktuellen Version von Julian Phlips arrangiert und ergänzt) gewählt. Allerdings hat der Komponist die Musik, an der er jahrelang von 1948 bsi 1953 gearbeitet hat, für ein ganz anderes Märchen geschaffen. „Die steinerne Blume“ hat zwar ein ähnliches Grundmuster, doch Ambiente, Ursprung, Geografie und kultureller Hintergrund sind völlig andere. Nicht von klirrender Kälte und einer vereisten Welt erzählt Prokofjew, sondern von der Feuerfee und ihren dienstbaren Geistern. Der Protagonist ist ein Steinschneider, der aus der Realität in die Kunst (dargestellt durch den Kupferberg, dessen Herrin ihm Erfüllung verspricht) flieht. Die Herrscherin des Kupferberges verspricht ihm die Erfüllung seiner Sehnsucht, lehrt ihn ein Kunstwerk zu schaffen. Aus Eifersucht versteinert sie ihn für kurze Zeit. Genau das Gegenteil eigentlich von Andersens Metapher des Splitters im Auge von Kai und Eis in seinem Herzen.
Dementsprechend gestaltet sich das Zusammenspiel zwischen Orchestergraben und Bühne schwierig. Oben wird das Märchen von Kai und Gerda und der frostigen Königin getanzt, unten wird die Rettung durch die Kunst gegeigt. Wie heikel es für die Tänzerinnen und Tänzer ist, zur wenig akzentuierten, sich passagenweise wiederholenden Musik eine nicht sonderlich inspirierte Choreografie zu tanzen, kann im Zuschauerraum nur geahnt werden. Die Handlung ist mager, des Choreografen Corder Bewegungskatalog ebenso wenig reichhaltig. Die Arme werden von den Solist_innen wie vom Corps anmutig oder hilfesuchend nach oben gereckt, die netten Pas de deux verlangen dauernd kraftraubende Hebefiguren. Vor allem Olga Esina als hartherzige Königin schwebt, getragen von ihren beiden Wölfen (Jakob Feyferlik, Leonardo Basilio), nahezu dauernd in schwindelnder Höhe. Davide Dato hat doppelte Last zu schleppen, seine Gerda und auch die Königin.
Monotonie und Ennui. Tänzerinnen und Tänzer geben ihr Bestes, versuchen auch im Corps die langweiligen Schritte präzise zu setzen, doch so richtige Ballettstimmung kommt nicht auf. Ich sehe ein endloses Band von sich ähnelnden Pas de deux und Solos; wundere mich über die frostige Gesellschaft im Palast der Königin, die es (mitunter vergeblich) schafft, im planlosen Gerenne nicht zusammenzustoßen und aus der Reihe zu tanzen. Einen choreografischen Willen kann ich nicht wirklich zu erkennen. Das frisch einstudierte Stück mag anstrengend für die Ausführenden sein, doch im Publikum löst die Gleichförmigkeit bald Teilnahmslosigkeit aus. Die Geschichte lässt so kalt, wie die wunderbare Olga Esina als Winterkönigin erscheint. Und auch Gerda (Alice Firenze) und Kay (Davide Dato) können mich nicht begeistern. Sicher machen sie keine Fehler und tanzen, was ihnen vorgeschrieben ist, doch ihre wahren Qualitäten (von Rollengestaltung gar nicht zu reden) können sie ebenso wenig zeigen, wie die beiden Rosengeister (Alexis Forabosco, Alexandru Tcacenco). Auch Zigeuner (mit dem Corps Mihail Sosnovschi, Ketevan Papava) habe ich schon mitreißender gesehen. Lediglich das niedliche Rentier (Géraud Wielick) bringt mich etwas in Stimmung.
Habe ich mit der nach Russland verlegten choreografischen Umsetzung des Kunstmärchens aus Dänemark wenig Freude, so können die Liebhaberinnen eines Ausstattungsspektakels wie es die Traumfabriken nicht besser machen könnten, zu Recht jubeln. Mark Bailey zieht alle Register seiner Fantasie um den Winterpalast samt seinen Bewohnerinnen feenhaft zu zeigen. Die Schneekönigin steigt vom schimmernden Thron aus Eis, Stalaktiten glitzern im strahlenden Kerzenlicht, die Hofgesellschaft starrt in frostigem Blau, die Tiere in pelzigem Weiß, am dunklen Himmel funkeln die Sterne, leuchtet die Mondkugel, leise rieselt der Schnee. Das Böse kann so schön sein.
Die barocke Pracht, eingefroren wie sie sein soll, kann sich nicht ändern. Überwältigend beim ersten Heben des Vorhangs, bereist bekannt in den folgenden Szenen. Dennoch, die Bauernmädchen und Burschen und die Hütte von Gerda und ihrer Großmutter (Ursula Szameit) können mit dem Märchenreich nicht mithalten. Das Ende ist wie der Anfang (nach einem Prolog der Schneekönigin), alle hüpfen im Kreis.
Sei’s drum. Es geht ja bei einem Ballett nicht nur um die hehre Kunst sondern auch um die hohe Auslastung. Die ist bei der „Schneekönigin“ mehr als erfüllt, Vorstellungen mussten eingeschoben werden, auch im März wird in der Volksoper noch das Eis im Palast glitzern. Die Qualität einer Choreografie verhält sich oft reziprok zur Freude des Publikums. Gut für die Kassa ist freilich kein Merkmal künstlerischer Klasse.
„Die Schneekönigin“, Ballett in drei Akten, frei nach dem Märchen von Hans Christian Andersen von Michael Corder, Musik Sergej Prokofjew, Ausstattung Mark Bailey, Dirigent Martin Yates. Premiere am 8.12. in der Volksoper.
Weitere Vorstellungen: Volksoper.at