Eva-Maria Schaller: „Vestris 4.0“, brut / Eldorado
Im Rahmen von imagetanz zeigt Eva-Maria Schaller eindrucksvolle Körperbilder. Die Tänzerin ließ sich von Mikhail Baryschnikov inspirieren, für den der russische Choreograf Leonid Jacobson (1904–1975) die Miniatur-Soli „Vestris“, uraufgeführt 1969 in einem Off-Theater von Leningrad, geschaffen hat. Dabei dachte er an den „Tanzgott“ Auguste Vestris (1760–1842), der schon mit 21 Jahren zum Liebling des russischen Balletts zählte. In „Vestris 4.0“ macht sich Schaller das 18. Jahrhundert mit Vestris und das 20. mit Baryshnikovs Darstellung zu eigen, zerlegt die Bewegungen und setzt sie neu zusammen. Die Barockzeit, Port de bras, Arabesque und Pirouette sind nur noch angedeutet und dennoch deutlich erkennbar. Schaller schöpft aus dem Archiv der romantisch-klassischen Tanzbewegungen und macht sie sich ganz zu eigen.
Viel hat sich Eva-Maria Schaller vorgenommen. Sie überspringt mehrere Jahrhunderte während sie sich an Baryschnikov erinnert, der sich in der Choreografie Jacobsons an Auguste Vestris erinnert, und schlüpft in die Männerrolle. Schon im Kostüm schimmert das 18. Jahrhundert durch. Baryschnikov trat mit gepuderter Perücke im weißen Dress mit Spitzenbesatz auf. Auch Schaller hat das für eine Perücke vorbereitet, eine solche aber nicht aufgesetzt. Aufgesetzt sind jedoch auf ihren weißen Body bunte Flicken. Die Musik, komponiert und elektronisch gemixt von Mathias Kranebitter, live am Cello begleitet von Maiken Beer, ist durch und durch heutig, wie auch das wechselnde Lichtdesign von Jan Wagner. Die kurzen Szenen, die das Leben und das Wesen des berühmten Tänzers Vestris (1760–1842), Lehrer von Marius Petipa, Marie Taglioni und auch Fanny Elßler, auffächern, sind stark pantomimisch beeinflusst – der Mime Marcel Marceau hatte auf seinen Tourneen auch die Sowjetunion besucht –, der Gesichtsausdruck, oft maskenhaft, ist ein wichtiges Element der kleinen Szenen. Vestris, so lerne ich auch aus der aufgebrochenen für einen Mann über einen Mann erdachten, heute von einer Frau getanzten Choreografie, war ein Clown, ein Aufschneider und Possenspieler und vor allem ein fabelhafter Tänzer. Auch Eva-Maria Schaller, ausgebildet an der Ballettschule der Wiener Staatsoper, ist das, eine fabelhafte Tänzerin, und kann sich so in ihre Vorbilder hineindenken, dass ich zeitweise einen Mann tanzen sehe, weniger kraftvoll und eckig vielleicht. Ganz leicht ist es, den Mini-Szenen Titel zu geben: Der Anführer etwa, oder der glückliche Tänzer, der Erhabene, die anderen auslachend, aber auch der traurige Clown, der alte, sterbende Tänzer.
Schaller konzentriert sich ganz auf ihren Körper und den Ausdruck im Gesicht, die Arbeit mit den Armen, Händen und Füßen. Sie tanzt barfuß. Schon Jacobson hat in seinen Choreografien den Tänzerinnen Spitzenschuhe und Tutus weggenommen. Er war der erste, der das Ballett „Spartacus“ zur Musik von Aram Khatschaturjan auf die Bühne des Kirov Theaters in Leningrad (heute wieder St. Petersburg) gebracht hat und damit einen Skandal verursachte: Die Tänzer*innen trugen Tunika und Sandalen, mussten zugleich auch Schauspieler*innen sein und das klassische Ballett vergessen. Lang hielt sich diese Kreation nicht am heuten Mariinski-Theater. Auch 1956 wurde noch bestraft, wer die strengen Regeln des Balletts, vor allem den Spitzentanz, missachtete. Jacobson fiel in Ungnade, seine Schöpfung ins Depot. Erst 1968 erweckte Yury Grigorovich das Ballett in einer neuen Choreografie wieder zum Leben. Heute zählt das Adagio, die Liebesszene zwischen Spartacus und Phrygia, zu den Lieblingschoreografien nicht nur russischer Paare auf dem Eis.
Zurück aus der Seitengasse auf die Hauptstraße. Nur eine gute halbe Stunde dauern die Miniaturen von Eva-Maria Schaller nach Leonid Jacobson. Doch was ist alles herauszulesen! Das ganze Leben eines berühmten Mannes, seine Gefühle und seine Tanzkunst und die Erinnerung an den großartigen Tänzer Mikhail Baryshnikov, Komik und Melancholie, Frömmigkeit und Menschenverachtung. Der Körper in Spannung erzählt viele Geschichten. Sehenswert, selbst wenn man keine Ahnung von Tänzer Auguste Gaétan Vestris aus dem 18, Jahrhundert, vom Choreografen Leonid Jacobson aus dem 20. hat. Mikhail Baryshnikov kann man in vielen Filmen tanzen sehen und auf Youtube sind auch Videos der „Vestris“-Interpretationen zu finde. Baryshnikov lebt 70jährig in New York, wo er Direktor des Baryshnikov Arts Center ist. Eva Maria Schaller ist in Wien geboren und lebt als freischaffende Tänzerin / Performerin in Wien.
Eva-Maria Schaller: „Vestris 4.0“, Tanz ohne Sprache. Komposition und Elektronik: Matthias Kranebitter; Cello: Maike Beer; Bühnenobjekt: Elena Peytinska; Kostüm: Heike Kovacs; Lichtdesign: Jan Wagner; Bühnenobjekt: Elena Peytchinska; Choreografische Beratung: Esther Balfe, Sabina Holzer. Gesehen bei der Generalprobe am 22. März 2018. Aufführungen: 23., 24. März 2018, brut im Eldorado, im Rahmen von imagetanz.