Das Spiegelcabinet des Dr. Haring
Ein Spiel mit Buchstaben und Wörtern steht zu Beginn des neuen Zyklus der Company Liquid Loft / Chris Haring, L.I.F.E. Im Rahmen des ImPulsTanz Festivals ’23 war der erste Teil zu sehen: L.I.F.E. ist mit living in funny eternity entschlüsselt worden. Der zweite Teil hat am 30. 11. im Tanzquartier Premiere gehabt: lost in freaky evolution lautet diesmal der Code. Luke Baio, Dong Uk Kim, Dante Murillo, Anna Maria Nowak und Hannah Timbrell spielen mit spiegelnden Matten und den Livekameras.
Warum die hervorragende Tänzerin Anna Maria Nowak nur zur Einleitung erscheint und danach traurig am rechten Rand sitzen muss, sodass man sie ab der Mitte gar nicht mehr sieht, ergibt ebenso wenig Sinn wie die gesamte Aufführung. Baio, Kim, Murillo und Timbrell sind vor allem damit beschäftigt, siegelnde Matten hin und her zu schieben, sie aufzustellen und einzurollen, um die nötigen Effekte auf den beiden über Eck stehenden Bildschirmen hervorzurufen. Die sind natürlich sehenswert. Wenn sie nicht emsig umher wuselnd, die Kameras in Position bringen müssen, stellen sie sich selbst in Positur, liebäugeln mit ihrem Bild auf dem Schirm. Die Kameras spiegeln, verzerren, verdoppeln und vervielfachen sie. Die Spiegelbilder plaudern mit sich selbst, schneiden Grimassen zu ihren fremden Stimmen aus den Schallwandlern. Ach ja, das kennen wir schon, und sind nicht mehr erstaunt.
Was ist anders als sonst in den Performances von Liquid Loft? Die Kostüme werden kaum gewechselt, sind nicht freaky, sondern elegant und festlich. Die Menschen bleiben diesmal Menschen, die Männer Männer, die beiden Frauen, eine agierend, eine am Rand hockend, Frauen. Szene reiht sich an Szene, Bild an Bild, Wiederholungen sind beabsichtigt. Ein Wechselspiel zwischen höllischem Chaos im roten Licht und, durch gleißendes White-in getrennt, schicker Catwalk-Szenerie spult sich pointen- und humorlos ab. Keine Dramaturgie, kein Ziel, keine Lösung. Selbst wenn die Kameras schwanken, sich drehen und die Tanzenden einfangen, sodass diese entweder wie im Weltraum schweben oder ein Farbenwirbel entsteht, als würden wir durch das Bullauge einer Waschmaschine blicken. Heute ist das obsolet, doch in den 1960er Jahren, vor meiner ersten Waschmaschine hockend …
Eine Erinnerung. Mehr nicht.
Oder doch! Nämlich das tanzende Team von Liquid Loft, perfekt trainiert, präzise und bewegungsfreudig, exzellent. Lustvolles Zusehen ist garantiert, wenn sich die Männer in den Hüften biegen, als Paar zusammenfinden und ein wenig Gymnastik zeigen, wenn Hannah Timbrell über den Laufsteg stakst und sich selbst zulächelt.
Was ich sehen soll, steht auf dem Programmzettel:
Die im Tanz ihrer Existenz sich vergewissernden Menschenkörper halten in lost in freaky evolution_L.I.F.E. lustvoll gegen die Negativräume einer lückenlos vernetzten Welt, gegen die Ausweitung der Datenzone.
Und dann auch noch die seit der im ersten Teil zitierten „Eternity“ unbeantwortete Frage:
Aber existieren wir „wirklich“, oder erscheinen wir nur als Fantasmen im unsteten Blick einer Kamera, die wir selfie-ish auf uns (und einander) richten?
Ach ja, Pedro Calderón de la Barca – kenne ich aus dem Dichterquartett.
Oder, hundert Jahre später, die Aussage gedreht: Franz Seraphicus Grillparzer – kenne ich aus der Schule.
Wortspielereien, Spiegelgefechte, Kameraeffekte, bunt rauschen die Bilder an den Augen vorbei, lösen sich gleich wieder auf, erreichen das Herz nicht, dahinter ist keine Welt.
Liquid Loft: lost in freaky evolution_L.I.F.E. Uraufführung im Tanzquartier am 30.11.2023.
Tanz, Choreografie: Luke Baio, Dong Uk Kim, Dante Murillo, Anna Maria Nowak, Hannah Timbrell.
Künstlerische Leitung, Choreografie: Chris Haring. Komposition, Soundkonzept: Andreas Berger; Lichtdesign, Szenografie: Thomas Jelinek. Kostüme: Stefan Röhrle. Theorie, Text: Stefan Grissemann, Sophie Reyer.
Zwei weitere Vorstellungen im Tanzquartier am 1. und 2.12.2023.
Fotos: © Michael Loizenbauer