Auch Steine sind Natur und mitunter Eindringlinge
Das AAR-Festival von Tanz*Hotel im Theater Nestroyhof / Hamakom ist am 21. Juni mit drei recht unterschiedlichen Choreografien eröffnet worden. Der Gründer und künstlerische Leiter von Tanz*Hotel, Bert Gstettner, hat seine neue Arbeit B*Beppu für drei Tänzerinnen, gezeigt, Inge Kaindlstorfer und Elisabeth Flunger haben die Performance Materialstudie: Papier und Metall vorgeführt. Andrea Nagl hat das Vorrecht gehabt, den Eröffnungsabend zu eröffnen. __allochton nennt sie ihr Solo, getanzt zur Musik von Karlheinz Essl.
AAR, das ist die Abkürzung für das Residenz-Projekt Artist at Resort im Tanz*Hotel von Bert Gstettner. Nach 21 Vorstellungsabenden mit jeweils drei erarbeiteten oder noch fertig zu erarbeitenden Werken (Solos und Gruppenauftritte) im Arbeitsraum des Tanz*Hotel, werden die Erfolge von mehreren Jahren (die erste Vorstellungsrunde war im Dezember 2008) mit einem Festival gefeiert.
Die herausstechende Choreografie des ersten Abends ist der exzellenten Tänzerin Andrea Nagl zu verdanken. Sie tanzt ihr Solo _allochthon zur Soundinstallation SEELEWASCHEN von Karlheinz Essl. Es ist nicht ihre erste Choreografie, für die sie eine Komposition von Essl verwendet. 2018 hat sie als AAR die Uraufführung Sequitur_caleidoscopia gezeigt. Die Musik (Sequitur IVb) stammt von Essl, die Live Visuals hat Monocolor (Marian Essl, vor kurzem beim Best of Earth Award 2023 mit einer Honorary Mention ausgezeichnet), komponiert, Judith Reiter hat mit der Viola und Live Electronics begleitet. Eine Performance, in der Bewegung, Bild und Musik verwoben werden, alles ist Bewegung, alles ist Musik, alles Ist Farben. Beeindruckend.
Ebenso beeindruckend 2023 _allochthon. Ein griechischer Begriff, dessen Gegenteil besser bekannt ist: autochthon. Die Silbe chton stand bei den Hellenen für Erde, auto ist gar nicht mehr als griechisch zu erkennen und leicht zu verstehen: selbst, also von dieser Erde, hier geboren / hergestellt, bodenständig, nicht importiert. Der Wortteil allos bedeutet das Gegenteil, fremd, importiert, gebietsfremd. Beide Begriffe werden vor allem in unterschiedlichen Wissenschaftszweigen verwendet, Geologie, Ethnologie, Biologie. Nun ist dieses „nicht von hier“ auch in den Tanz eingezogen. Allerdings, ich habe die Künstlerin nach der Vorstellung nicht gesprochen und kann daher nicht sagen, worauf sich der Titel bezieht, denn der Tanz ist von ihr, Andrea Nagl ist Choreografin und Tänzerin. Das Gleiche gilt für die Musik. Könnte aber sein, sie meint, sie hätte sie sich geborgt, denn der Komponist hat bei der Entstehung seiner Soundinstallation SEELENWASCHEN noch nicht vom Tanz gewusst. Doch im Programmheft des AAR-Festivals ist zu lesen, dass sich Nagl zurzeit mit der Erdgeschichte, Geologie und allgemeinen Naturphänomenen beschäftigt. Aha, _allochthon hat als Begriff, der in der Geologie häufig vorkommt (Gestein, das nicht mehr dort zu finden ist, wo es entstanden ist) als Titel seine Berechtigung. Es gibt auch allochthone Flüsse, die ein regenarmes Gebiet mit Wasser versorgen, aber ganz anderswo entsprungen sind.
Im Grunde ist es egal, welchen Namen ein Kunstwerk trägt, ein Titel ist nur ein Titel, und was der Tanz bedeutet, darf sich jede(r) ausdenken. Autochton ist jedenfalls Nagls Darstellung, in der sie ihren gespannten Körper geschmeidig einsetzt, kaum gesehene Positionen einnimmt und zeigt, wie ausdrucksstark der Tanzkörper spricht. Wenn sie sich zusammenkrümmt, rutscht das hinten durch Bänder gehaltene weiße Oberteil nach oben und man kann die Rückenwirbel zählen und der Muskulatur bei der Arbeit zusehen.
Apropos: Rückenmuskulatur ist autochthon für sämtliche Wirbeltiere.
Im Freien Tanz bin ich solche Konzentration und auch Präzision, wie Andrea Nagl sie zeigt, nicht mehr gewohnt. Die elektronische Musik von Essl ist Dialogpartnerin, der die Tänzerin mitunter recht gibt, aber auch mit einer Gegenrede antwortet. Der Körper macht das An- und Abschwellen des Sounds nicht immer mit, folgt auch seinen eigenen Impulsen. Unterstützt werden die vielfältigen Bewegungssequenzen der Tänzerin durch das Kostüm von Sarah Sternat, erfolgreichen Bühnenbildnerin und Ausstatterin aus Graz mit Wohn- und Arbeitssitz in Wien. Sie hat bei Andrea Nagl Tanz studiert und ist mit dem Tanzkörper vertraut. Die gutsitzende lange Hose ist grau und kontrastiert mit dem weißen Oberteil, sodass das Kostüm den unterschiedlichen Körperpositionen und die aus der Mitte generierten Bewegungen Nagls wirkungsvoll unterstreicht.
Beim Stöbern im Internet habe ich gleich mehr über _autochton erfahren. Dem Solo für das AAR-Festival im Hamakom ist die Serie Randnotizen oder die Auflösung der Wunderkammer / Nagl–Wintersberger vorangegangen. Die Randnotizen sind geologischer Natur, in der Galerie Lindenhof im Rahmen des Wald/4-Festival, wo sie im Juni gezeigt worden sind, liegen Granitblöcke auf der Bühne. Nagl tanzt zwischen und mit gesammelten Steinen zur Eröffnung einer Installation gleichen Titels von Medienkünstler Markus Wintersberger.
Auch so klug kann sich zum Thema Natur verhalten werden, sich damit auseinanderstzen und als Künstlerin dem Publikum Anregungen geben. Und doch vermittelt Andrea Nagl keine Botschaften, will von nichts überzeugen als von hervorragendem Tanz.
AAR-Festival, 1. Teil, „Gegenwart“ mit Choreografien von Bert Gstettner, lux flux und Andrea Nagl. 21. und 23. Juni 2023.
Tanz*Hotel im Theater Nestroyhof / Hamakom.
Andrea Nagl: _allochthon
Choreografie, Performance: Andrea Nagl. Musik: Karlheinz Essl. Kostüm: Sarah Sternat.
Eine Kooperation mit Temple Of Sound, Acousmonuments.
Fotos: © Martin Stapf, Markus Wintersberger, Heinz Zwazl.