De Keersmaeker: „Das gehen ist mein Tanzen“
Das Gehen und der Blues sind neben Shakespeare und Walter Benjamin die Quellen, aus denen die flämische Choreografin Anne Teresa De Keersmaeker in ihrer jüngsten Choreografie EXIT ABOVE. after the tempest / nach dem sturm schöpft. Aus dem Gehen wird Hüpfen, Laufen, Stampfen, Marschieren, Drehen, Schwingen und auch Heben. 13 Tänzer:innen tanzen den Blues. Ein Erlebnis.
Vor dem Gehen stehen die Beine still, dann erst kann der erste Schritt gesetzt werden. Immer wieder erinnert die Gruppe der Tänzer:innen daran, steht als geballte Masse oder im Kreis still, gibt Zeit zum Nachdenken über die Themen von EXIT ABOVE (Ausgang oben). Mit ihrer klaren Stimme spricht die flämische Sängerin Meskerem Mees die Einleitung. Die Choreografin erinnert sich an Paul Klees aquarellierte Zeichnung Angelus Novus, die der Philosoph Walter Benjamin 1921 erstanden hat. Mees liest seine vielschichtigen Reflexionen dazu. Benjamin nennt den von Klee gezeichneten Engel, „der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt“, den Engel der Geschichte. In der Vergangenheit sieht er eine einzige Katastrophe und möchte „das Zerschlagene wieder zusammenfügen.“
„Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst." Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm. Benjamins Interpretation führt zu Shakespeare und seinem Drama Der Sturm. Eine Assoziation nur, die vom Dramaturgen Wannes Gyselinck als Eisberg bezeichnet wird, „als unter der Oberfläche verborgener Teil des Stückes, das, was weder gesehen werden kann, noch gesehen werden soll, was aber dem Werk einen Schwerpunkt verleiht, …“
Was wir sehen, ist ein Gehen, Marschieren, Stillstehen auf dem mit Kreisen und Linien bunt gefärbten Bühnenboden. Die Gruppe hält zusammen, ist eine Gemeinschaft, auch wenn immer wieder einzelne sich lösen, eine Freiheit suchen, die es ohne die anderen nicht gibt. Und immer wieder der Blues. Intoniert auf der Gitarre von Carlos Garbin oder elektronisch verzerrt aus dem Lautsprecher und dazu die Stimme der Tänzerin (Singer/Songwriterin) Meskerem Mees. Sie ist noch keine 25, in Äthiopien geboren und mit 10 Monaten vom belgischen Ehepaar Mees adoptiert worden. Ihr Vorname bedeutet „Neuanfang“. In Belgien zählt sie bereits zu den Stars der Pop-Musik. Aus vielen Wettbewerben ging sie als Siegerin hervor, 2021 ist ihr Debütalbum „Julius“ mit Liedern über einen Esel erschienen. Sie ist von De Keersmaeker nicht nur als Sängerin und Tänzerin engagiert, sondern hat auch gemeinsam mit Carlos Garbin und dem Soundarchitekten Jean-Marie Aerts die Variationen der „Walking Songs“ komponiert. De Keersmaeker geht von Robert Johnsons Walkin’ Blues aus, der 1936 erschienen ist. Johnson ist 1911 in Mississippi geboren und mit 27 Jahren verstorben. Er gilt als der Begründer des Blues. De Keersmaeker legt von diesem eine Spur bis zur aktuellen Pop-Musik und dem Tanz. Die Choreografin arbeitet wie immer, entwickelt aus einfachen Bewegungen eine komplexe Architektur im Raum. Gehen ist im Grunde ein Gegenbeispiel für Produktivität und Effizienz, es bringt nichts hervor als das Vergehen von Zeit. Im Tanz ist die Zeit ein zentraler Faktor, doch die Zeit, die vergeht, während die 13 Tänzer und der Gitarrist auf der Bühne „gehen“, ist eine andere als die, in die De Keersmaeker unsere Gedanken lenkt. Obwohl EXIT ABOVE kein narratives Tanzstück ist, das aus der Musik geboren ist, birgt es jede Menge von Geschichten.
Dramaturg Gyselinck erklärt im Programmheft auch, was es mit dem mehrmaligen Händeklatschen einer Tänzerin zu Beginn des Stückes auf sich hat: Einst war es üblich, mit den eigenen Händen ein Donnern zu imitieren, um böse Geister zu vertreiben. „Wir imitieren also, was uns Angst macht, wodurch wir gleichzeitig unsere Angst vertreiben; den Sturm nachzumachen, verbannt ihn.“ Gyselinck nennt diese Interpretation des Klatschens generell: „Eine der verführerischsten Erklärungen.“ Der Blues macht melancholisch, doch es ist keine nagende, düstere Melancholie, sondern ein blauer, einhüllender Zustand, der nicht in den Abgrund führt, sondern hinauf, dort, wo der Ausgang ist. Ein Versuch. Doch der Sturm lässt sich nicht so leicht vertreiben. Bühnenbildner Michel François visualisiert und lässt eine riesige weiße Wolke aufsteigen und die klatschende Tänzerin niederwerfen. Stinkenden Nebel gibt es später auch, die Tänzerinnen liegen krächzend und hustend auf dem Boden. EXIT ABOVE ist ganz sicher kein Klimastück, doch Mensch und Natur spielen eine wichtige Rolle darin. Die Zeit (90 Minuten) ist schnell vergangen, wie üblich hängt De Keersmaeker an einen möglichen Schluss noch ein paar durchchoreografierte „Zugaben“ an. Carlos Garbin bearbeitet die Gitarrensaiten im Marschrhythmus, die Gruppe begibt sich auf Wanderschaft. Oder doch in den Krieg? Nein! „Ich glaube wirklich, dass wir uns an einem Wendepunkt in der Geschichte der Menschheit und unserer Beziehung zur Natur und zum Planeten befinden. Wir befinden uns im Auge des Sturms, in einer Spirale, die sich schließt.“ (De Keersmaeker in einem Interview). Fast vergesse ich, dass es auch um eine Vorstellung, eine Tanzperformance geht, um die großartigen mit Energie geladenen Tänzer:innen, um die Musik und die klare Stimme der Sängerin und den Einsatz des tanzenden Gitarristen. Es herrscht ein lebendiges Geschehen auf der Bühne, das, wenn der Sturm zu heftig wird, zum Chaos abstürzt, die Individuen aber sind eine Gemeinschaft, die die Unordnung zur Ordnung führt, in einer Choreografie, die sich nicht wichtig macht und aufdrängt.
Der mit Jubelnd garnierte tosende Applaus bestätigt: De Keersmaekers und ihres Teams Konzept ist aufgegangen. EXIT ABOVE ist beim Wiener Publikum angekommen. Es wird heuer noch eine Gelegenheit geben, Anne Teresa De Keersmaeker und ihre Formation Rosas zu sehen. Im Rahmen des ImPulsTanz Festivals wird ein Klassiker auf der Bühne des Volkstheaters getanzt: das großartige 1982 entstandene Stück Fase, Four Movements to the Music of Steve Reich. 17. und 19. Juli.
Anne Teresa De Keersmaeker / Rosas / Meskerem Mees, Jean-Marie Aerts, Carlos Garbin: EXIT ABOVE, after the tempest / nach dem sturm
Choreografie: Anne Teresa De Keersmaeker
Von und mit Abigail Aleksander, Jean Pierre Buré, Lav Crnčević, José Paulo dos Santos, Rafa Galdino, Carlos Garbin, Nina Godderis, Solal Mariotte, Meskerem Mees, Mariana Miranda, Ariadna Navarrete Valverde, Cintia Sebők, Jacob Storer. Mit Musik von Jean-Marie Aerts, Carlos Garbin, Meskerem Mees
Musik: Carlos Garbin, Meskerem Mees Text,
Lyrics: Meskerem Mees, Wannes Gyselinck; Dramaturgie; Wannes Gyselinck; Bühne: Michel François, Licht: Max Adams, Kostüme: Aouatif Boulaich; Choreografische Einstudierung: Cynthia Loemij, Clinton Stringer.
Fotos: © Anne-Van-Aerschot
Aufführungen im Rahmen der Wiener Festwochen: 15. und 16. Juni, Volksoper
Uraufführung: Mai 2023, Théâtre National Wallonie-Bruxelles (Brüssel)