Doppelter Fall aus der Zeit
Johann Sebastian Bachs Clavier Ubungbestehend in einer ARIA mit verschiedenen Veraenderungen vors Clavicimbal mit 2 Manuale, bekannt unter dem nicht vom Komponisten geprägten Namen Goldberg-Variationen gibt der letzten Ballettpremiere in dieser Saison den Titel. Der Schweizer Choreograf Heinz Spoerli hat sein Ballett zu Bachs barockem Werk 1993 in die lange Reihe der Goldberg-Choreografien, von denen eine der jüngsten Anne Teresa De Keersmaekers Solo ist, gestellt. Das Wiener Staatsballett reiht das Werk nun in sein Repertoire.
Die vielfältigen Einspielungen der 30 Variationen, denen eine Aria vorangestellt ist, dauern ungefähr 80 Minuten. Eigentlich genug für einen Tanzabend. Doch wird der Kraft von Spoerlis Werk offenbar nicht getraut und diesem ein Vorprogramm hinzugefügt: des israelischen Choreografen Ohad Naharin Tanzstück Tabula Rasa zur gleichnamigen Komposition von Arvo Pärt. 25 Minuten, die aus zwei Teilen bestehen, spielerisch, bewegt der erste, still, ohne Bewegung, der zweite. Bach, nach dem bereits neun Planetoiden im Asteroidengürtel der Sonne benannt sind, ist natürlich in jedem Werk seiner nachgeborenen Kollegen drin, doch eine Verbindung zu Spoerlis Choreografie lässt sich beim besten Willen nicht herstellen. Warum „Tabula Rasa“, keineswegs das beste Werk Naharins, anstrengend für die Tänzer:innen und auch für das Publikum und mit 37 Jahren auch nicht gerade das jüngste, den „30 Veränderung einer Aria“ Spoerlis vorangestellt wird, kann ich nicht erklären. Naharin lebte damals noch in Amerika, Tabula rasa ist für das Pittsburgh Ballet Theatre entstanden. In den Programmheften des Wiener Staatsballetts wird gerne von „Signaturwerken“ geschrieben, was immer damit gemeint ist, Tabula rasa ist keines. Die Bewegungssprache und Trainingsmethode Gaga hat Naharin erst ab 1990 als Reaktion auf eine Rückenverletzung entwickelt.
Für ein Ballettpublikum, wobei so ein Premierenpublikum nicht nur aus Ballettliebhaber:innen zusammengesetzt ist, ist Tabula rasa anstrengend, weil die Bewegungsabläufe neuartig sind. Die Goldberg-Variationen, ob getanzt oder nur am Klavier (Cembalo) interpretiert, sind, ist man nicht selbst Musiker.in, ziemlich ermüdend. Warum also diesen Auftakt? Ohne diesen getanzten Prolog hätte das p. t. Publikum vielleicht auch Bach / Spoerli genossen, wie es vorgesehen ist, nämlich ohne Unterbrechungen durch sinnloses Hineinklatschen. So aber wurde der Bogen der sich aneinanderfügenden Variationen ununterbrochen unterbrochen, der Pianist aus der Konzentration gerissen und die Freude am Ballett noch weiter abgesenkt. Allzu groß war sie ohnehin nicht an diesem Premierenabend. Beide Werke tragen einen ziemlich grauen Bart und haben kaum mehr eine Bedeutung. „Panorama des Lebens“ oder so ähnlich, ist zu lesen. Das passt als Interpretation zu jedem plotlosen Tanzstück, gilt also für Tabula rasa ebenso wie für Goldberg-Variationen. „Eine hervorragende, sehr feine Technik, Strahlkraft und ein gutes Gehör für die Musik“ müssen die Tänzer:innen für seine Goldberg-Variationen mitbringen, sagt Spoerli für das Programmheft. Wenn er mit Pliés, die scheinbar von Fröschen ausgeführt werden, auf einem Bein wackelnde Damen zufrieden ist und Zittern und Zappeln als Spitzentanz empfindet, werden seine Erwartungen erfüllt worden sein. Es gibt natürlich auch Lichtblicke, Solos und Pas de deux, die zum Träumen anregen. Aber auch die allerersten Ersten Solotänzer:innen können den Abend nicht retten. Tanzbar ist Barockmusik immer, der Tanz steckt in den Noten, Bach gibt die Themen vor. Die sind mal fröhlich und mal traurig, grotesk oder recht ernst, gravitätisch, pathetisch und auch leichtfüßig. Wer die 30 Veränderungen nicht hört, der sieht sie auf der Bühne, nicht nur in Pas de deux, Trios, oder Quartetten, sondern, noch auffälliger, in den Kostümen. Eine Sonderleistung der Tänzer:innen, die sich in Windeseile aus den engen Leotards schälen müssen, um einen in anderer Farbe überzuziehen. Die Schnitte sind für Frauen und Männer gleich, die Schulter und Schlüsselbeine bleiben frei, die Farben sind unterschiedlich, oft komplementär. Die Aria zu Beginn und das da capo am Ende werden von allen 28 Tänzer:innen ganz in Weiß getanzt. Schön! Diesen bunten Regenbogen hat sich Heinz Spoerli selbst ausgedacht. Im Hintergrund wallen Vorhänge herab, rot und blau, grau und schwarz und manchmal ein Wolkenhimmel. Das hat sich Bühnenbildner Florian Etti ausgedacht. Am Piano arbeitet William Youn, geboren 1982 in Korea, doch in ganz Europa, den USA und auch in seiner Heimat unterwegs. Er beschäftigt sich vor allem mit der Klaviermusik des 19. Jahrhunderts. Vor allem die Einspielung der Schubert-Sonaten sind für ihre "makellose, perfekt realisierte Natürlichkeit“ gelobt worden. Im Vorjahr ist der 3. Teil des Zyklus erschienen. Der kanadische Pianist Glenn Gould hat in den frühen 1980er-Jahren mit der Neuauflage seiner Goldberg-Einspielung des Jahres 1955 mehr als nur die Bach-Verehrer:innen verrückt gemacht und The Goldberg-Variations weit über den Konzertsaal hinaus bekannt gemacht. Ein Jahr nach dieser zweiten Studioaufnahme ist er verstorben. Es hat ihn niemand als Premieren-Pianist erwartet.
Auch der Dirigent wurde nicht erwartet, doch er ist gekommen: Christoph Koncz, der 36-Jährige ist als Dirigent erst 10 Jahre alt, als Geiger aber sitzt er mit den Philharmonikern im Orchestergraben oder auf der Konzertbühne. Sein Debüt als Dirigent hat er 2013 bei den Salzburg Mozartwochen gehabt, danach folgten die Engagements Schlag auf Schlag. Mit der Leitung des Orchesters der Staatsoper für Pärts „Tabula rasa“ gibt er nun auch am Dirigentenpult seinen Einstand in der Wiener Oper.
Goldberg-Variationen: Ohad Naharin: „Tabula rasa“; Heinz Spoerli: „Goldberg-Variationen“, Premiere des Wiener Staatsballetts in der Wiener Staatsoper, 27. April 2023.
„Tabula rasa“. Musik: Tabula rasa. Doppelkonzert für zwei Violinen, Streichorchester und präpariertes Klavier von Arvo Pärt. Choreografie, Bühne & Licht: Ohad Naharin. Musikalische Leitung: Christoph Koncz. Kostüme: Eri Nakamura. Einstudierung: Matan David. Violinen: Yamen Saadi & Raimund Lissy; Klavier: Anna Buchenhorst., Orchester der Wiener Staatsoper, Wiener Staatsballett. „Goldberg-Variationen“. Musik Goldberg-Variationen BWV 988 von Johann Sebastian Bach. Choreografie & Kostüme: Heinz Spoerli. Bühne: Florian Etti. Licht. Robert Eisenstein. Einstudierung: Arman Grigoryan & Chris Jensen.
Solistinnen: Olga Esina, Hyo-Jung Kang, Liudmila Konovalova, Elena Bottaro, Claudine Schoch. Solisten: Davide Dato, Masayu Kimoto, Marcos Mena, Alexey Popov, Brendan Saye, Arne Vandervelde, Daniel Vizcayo, Géraud Wielick, Giorgio Fourés. Ensembles des Wiener Staatsballetts. Klavier: William Youn.
Sieben Folgevorstellungen ab 1. Mai 2023
Fotos: : © Ashley Taylor
ceterum censeo. Im Übrigen bin ich der Meinung, dass das Ballett eine eigene Website bekommen sollte.