Mit den Ahnen sprechen bis der Schmerz nachlässt
Die Tatsache, dass auch traumatisierende Erfahrungen, Gewalt, Schmerzen, Krieg, an die Nachfahren weitergegeben werden, ist für Ulduz Ahmadzadeh und die ATASH عطش contemporary dance company Anlass, eine Begegnung mit Großeltern und Eltern zu veranstalten. Ancestor’s Banquet heißt die Tanz-Performance im brut, die sich mit dem Erbe, das Kinder und Enkel von einer Kriegsgeneration übernehmen müssen, beschäftigt.
Ein Knall bringt die Menge im Theatervorraum zum Schweigen. Totale Stille. Die Methode, mit der sich Anne Wiederhold-Daryanavard die Aufmerksamkeit sichert, kommt auf den Merkzettel. Im Prolog gibt die Schauspielerin die Voraussetzungen für das Verständnis der Performance, wissenschaftliche Ergebnisse und Erklärungen, akustisch und optisch. Während sie spricht, fließt über eine Pyramide aus Sektgläsern von der Spitze bis ins breite Basis rot gefärbter Sekt. Die Installation zeigt den genetischen Weg in umgekehrter Richtung. Was wie ein Schuss die Schreckstille erzeugt hat, war der aus der Sektflasche hochfliegende Korken. Wer dem Prolog nicht gefolgt ist, kann die nötigen Grundlagen im ausführlichen Programm nachlesen.
Auf geht es zum Bankett, das in einer von Till Krappmann wundersam gebauten, geheimnisvollen, aber nicht furchterregenden Höhle stattfindet. An der Decke hängen lockere Gebilde. Vögel? Fledermäuse? Ach so, es sind die Wirbel, die das Rückgrat bilden, ein Symbol dafür, dass wir nicht nur unsere eigenen Erfahrungen, sondern auch die der Vorangegangenen in den Knochen tragen. Die Beleuchtung ist gedämpft, im Hintergrund scheint ein Feuer zu brennen, Dampf steigt auf und Desi Bonato, Naline Ferraz, Flora Virag, Xianghui Zeng bewegen sich gemessen entlang der Zeitlinie, zurück zu den Ahn:innen und nach vor zu den Enkel:innen. Sie erstarren zum Tableau, doch auch, wenn sie ein Paar bilden, kennen sie einander nicht. Die Vier tanzen nicht miteinander, sondern mit ihren Erinnerungen und Gedanken, das Publikum bekommt genügend Zeit, den eigenen nachzuhängen. Die Tänzerin und Choreografin Ulduz Ahmadzadeh geht von ihren persönlichen Erfahrungen in ihrer Heimat, Iran, aus, wo sie im Krieg aufgewachsen ist und später Verbote und Unterdrückung erlebt hat. Die Frage, was sie ihren Kindern von den Ängsten, den Schmerzen und Demütigungen weitergeben würde, war der Ausgangspunkt für die Performance, in der das tanzende Quartett auf der Bühne die Zeit zum Raum macht und beides ist, Vorfahren und Nachfahren, Jäger:innen und Beute, Individuen und Gemeinschaft.
Wie die dreiteilige Performance ist auch die Musik von Adrián Artacho aus den einzelnen und auch gemeinsamen Erfahrungen und Erinnerungen. So wird auch Naline Ferraz, aus Brasilien kommend, etwas grob, wenn sie der Italienerin Desi Bonato in Wasser getunktes Reispapier auf die nackte Haut klatscht. „Wenn man heilen will, muss man manchmal ein wenig grob sein, das hilft“, sagt sie später im Gespräch. Welch ausgezeichnete Tänzerinnen die Akteurinnen sind, zeigen sie im überaus körperbetonten zweiten Teil. Sie springen und turnen, sind Tänzerinnen und Akrobatinnen, benutzen Knochen und Muskeln, Sehnen und Gelenke als Ventile, um den Schmerz zu bewältigen. Mit einem Ungetüm von Staubsauger wird der alte Schmerz entfernt. Flora Virag singt in ihrer Muttersprache ein ungarisches Volkslied, den Rhythmus stampft sie sich selbst. Der dritte Teil hat begonnen, die Tänzerinnen und Tänzer Xianghui Zeng aus China erinnern sich, erzählen in ihrer eigenen Sprache, Ungarisch und Chinesisch, Brasilianisch und Italienisch. Auch wenn die Wörter aus einer fremden Sprache sind, die Sprache der Körper wird immer verstanden.
Gemeinsam mit dem ausgezeichneten Team ist Ulduz Ahmadzadeh eine stringente, spannende und ästhetische Aufführung gelungen. Es werden keine Botschaften verkündet, keine Predigten gehalten und nicht manipuliert, aber genügend Stoff zum Nachdenken vermittelt. Inhalt und Form bilden eine Einheit, neben der tiefen Ernsthaftigkeit des Themas kommt auch das Vergnügen zu seinem Recht. Das Vergnügen an einer durchdachten Dramaturgie, einem guten Timing, den schönen Körperbildern samt dem stimmigen Bühnenbild und dem elektronischen Sound samt abschließender Livemusik.
Ulduz Ahmadzadeh | ATASH عطش contemporary dance company: „Ancestors’ Banquet“, Premiere: 27. April 2023, brut nordwest.
Künstlerische Co-Leitung, Konzept, Choreografie: Ulduz Ahmadzadeh, Künstlerische Co-Leitung, Konzept, Szenografie: Till Krappmann. Konzept, Dramaturgie: Anne Wiederhold-Daryanavard. Komposition, Live-Elektronik: Adrián Artacho.
Performance, Co-Kreation: Desi Bonato, Naline Ferraz, Flora Virag, Xianghui Zeng, Anne Wiederhold-Daryanavard.
Live-Musik: Lorina Vallaster (Blockflöten, Stimme), Anna Maria Niemiec (Violoncello, Stimme). Lichtdesign: Paul Eisemann; Choreografische Mitarbeit: Annelie Andre. Szenografie in Kollaboration mit Abigail Marcillo; Fachliche Beratung: Claudia Wielander. Produktion: Mascha Mölkner.
Vorstellungen: 27. – 30. April 2023, brut nordwest.
Fotos: © Peter Rauchecker