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Das ungehorsame Mädchen ist bald 250 Jahr alt

Hochzeitspläne, die nicht aufgehen. Lise, Alain, sein Vater, Mutter Simone.

In der 82. Aufführung des von Frederick Ashton 1960 nach dem bekannten Libretto von Jean Dauberval choreografierten Balletts sind Kiyoka Hashimoto und Davide Dato als Lise und Colas stürmisch gefeiert worden. Auch dem Debütanten Javier González Cabrera wurde der Applaus nicht verweigert. Der Spanier ist seit der Spielzeit 2020/21 Mitglied im Corps de ballet des Wiener Staatsballetts.

Der liebenswerte, aber ungeschickte Alain: Javier González Cabrera tanzt die Rolle zum ersten Mal. Bereits im 18. Jahrhundert hat „La Fille mal gardée“, das Mädchen, schlecht behütet und recht ungehorsam, tanzt der Mutter auf der Nase herum. Damals hieß die Erzählung von Liebe und Landlust „Ballet de la Paille“, also „Strohballett“, und die Strohballen sind auch heute noch auf der Bühne, weil sie eine wichtige Rolle zu spielen haben. Um genau zu sein, das von Jean Bercher, genannt Dauberval erdachte Libretto hat einen ellenlangen Titel, fast so lang wie das Leben der Hauptfiguren: Ü bersetzt lautet er: "Ballett vom Stroh oder es ist nur ein Schritt vom Schlechten zum Guten“. Fast so lang ist dieser Titel wie das Leben der Hauptfiguren, Lise, die trickreich Simone, ihre Mutter, überlistet, weil sie den ihr zugedachten Bräutigam den tollpatschigen Winzersohn Alain nicht will. Auftrag ausgeführt: Frau geküsst, gleich kann Alain auf dem Regenschirm davonreiten. /Andrés Garcia Torres, Javier González Cabrera.ihre Liebe gehört Colas, dem armen Bauern. Dass der wohlhabenden Witwe Simone der Knecht auf ihrem Hof nicht als Schwiegersohn passt, kann auch heute noch jede(r) nachvollziehen. Doch wie gesagt, die Witwe ist zwar streng und malträtiert auch Lises Hinterteil, doch sie pflegt ein Nickerchen zu machen und auch die falschen Türen zuzusperren.
Alain, der gar nichts kapiert, auch schon irrtümlich den Verlobungsring der alten Simone verehren will, bleibt übrig, wird vom verärgerten Vater, der sich den Hof und die Schwiegertochter mit prallen Geldsäcken erkaufen wollte, mit festem Griff abgezogen.
Diesen Alain hat Javier González Cabrera in der letzten Vorstellung der aktuellen Wiederaufnahme des 1986 von Ballettdirektor Gerhard Brunner ins Repertoire des Wiener Ensembles aufgenommenen Balletts von Frederick Ashton (Uraufführung in London 1960) mit verschmitzter Verve getanzt. Endlich vereint: Lise und Colas. Kiyoka Hashimoto und Davide Dato, ein Spitzenpaar, dem man gerne zusieht. González Cabreras ist ein liebenswerter, patscherter Bräutigam, der nicht genau weiß, warum er mit dem Blumenstrauß in der Hand vom  Vater in die fremde Umgebung gezerrt wird. Er kann die alte Witwe nicht von der jungen Tochter unterscheiden und reitet lieber auf seinem Regenschirm in die Ferne, ist fröhliches Kind statt ernster Bräutigam. Dass die Dorfmädchen ihre Scherze mit ihm treiben, ist ihm eine richtige Freude. Doch dass er keine von ihrAlain, nicht gerade ein Blitzdenker, doch man muss ihn lieben. (Javier González Cabrera) en bekommt, natürlich auch nicht Lise, die mit ihrem Colas im Arm die Mutter vor vollendete Tatsachen stellt, macht ihn richtig traurig. Und da möchte man Alain gerne trösten. Der junge Tänzer muss nicht getröstet werden, er hat reichlich Applaus für seine perfekt getanzte und auch gespielte Rolle erhalten.
Andrés Garcia Torres, seit 2014 Mitglied im Wiener Staatsballett, hat die Rolle der Witwe Simone im persönlichen Repertoire. Doch er nimmt den Auftritt zu ernst, konzentriert sich nur auf die Schritte anstatt diese Rolle in all ihrer Komik und Vielfältigkeit auch zu genießen. Für das Publikum ist es ein besonders Vergnügen, wenn in der Gestaltung einer Rolle durchschimmert, dass der Rollenträger / die Rollenträgerin mehr weiß als die dargestellte / getanzte Figur. Der Holzschuhtanz, die bekannteste Passage des Balletts. Inmitten des Damenensembles Andrés Garcia Torres als Witwe Simone. Ähnliches wünschte ich mir auch von Kristián Pokorný, seit 2020/21 Mitglied im Corps de ballet des Staatsballetts, der als Hahn seine vier Hennen anführt. Wie sagt man so schön? Da ist noch Luft nach oben in der Darstellung.
Kiyoka Hashimoto träumt als Lise vom schönen Leben mit Colas. Die Handlung mag simpel sein, das Liebespaar feiert Hochzeit, der reiche Winzer (in der aktuellen Vorstellung Igor Milos), der seinen Sohn verkaufen und ihm eine Braut kaufen wollte, ist der Düpierte, doch Ashtons Choreografie ist es keineswegs. Der Tanz mit dem rosa Band, eine wunderbare Metapher für die sogenannte Liebe, und auch die Bandltänze der Bauernmädchen und -burschen lassen es nicht an Schwierigkeiten mangeln. Noch ist diese Liebe heimlich: Lise und Colas, getanzt und dargestellt von Kiyoka Hashimoto und Davide Dato.
Die Pas de deux, von Hashimoto und Dato mit meisterhafter Intensität gezeigt, sind großes Ballett. Kiyoka Hashimoto ist eine würdige erste Solistin, doch zeigt sie als Lise, dass sie auch eine Schauspielerin sein kann. Mit der Darstellung ihres Traums vom schönen Leben mit einer großen Familie und der Finten, mit denen sie ihre Mutter austrickst, steht sie der persönlichen Rolleninterpretation Datos keineswegs nach. So ist das Publikum doppelt erfreut worden, mit einem feinen Ballett und einer gut gespielten Komödie. Zu Recht hat der Jubel am Ende nicht nur den Solist:innen und dem Ensemble gegolten, auch der Dirigent, Guillermo García Calvo, war in den Applaus miteinbezogen und hat sich artig vor dem Orchester der Staatsoper und dem Publikum verbeugt.

„La Fille mal gardée“ Ballett in zwei Akten & drei Bildern.
Musik: Ferdinand Hérold in einer Bearbeitung von John Lanchbery. Libretto: nach Jean Dauberval. Choreografie, Frederick Ashton.
Musikalische Leitung: Guillermo García Calvo:
82. Vorstellung, 27. März 2023, Wiener Staatsballett in der Staatsoper.
Fotos: © Ashley Taylor