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Gefühle aus der Herzsaftpresse

Hugo Le Brigand in der magischen Performance „Mathieu“.

Ein Choreograf, der dichtet und rezitiert, ein/e Sound Designer/in, die/der auch mit Live-Musik die Aufmerksamkeit auf sich lenkt, und ein Tänzer, dem der Tanz aus den Venen, dem Herzen und der Leber springt – ein Trio mit berauschender Bühnenpräsenz. Sebastiano Sing drückt auf die Herzsaftpresse und zeigt mit Ernst Lima (*aquarius) und Hugo Le Brigand „Mathieu“, einen Abend voll Herzblut und Stimmenschmalz. Die Uraufführung der gefühlsüberschwemmten Performance fand im brut ´im Projektraum des WuK statt.

Blumen, blühend und welkend, rund um die Bühne.Die Bühne ist mit weißblühenden Blumen geschmückt, manche lassen schon die Köpfe hängen, sind gebräunt und dunkelrot wie mit Krapp gefärbt. Der Tänzer Hugo Le Brigand und Sebastiano Sing, der als Dichter auftritt sind in erotisches Schwarz gehüllt und sehen aus wie herrlich melancholische Mönche. Mönch Hugo allerdings zeigt mit lebhafter Mimik, rasanten Drehungen, fröhlichen Sprüngen und dem Ausschnitt der schimmernden Kutte auf dem Rücken, dass er das Leben liebt ebenso wie den Weltschmerz. Ernst Lima ist in warmes Braun gehüllt, bringt die Stimme zum Singen und die E-Gitarre zum Klingen. Sebastiano Sing, dichtet zu Hause und rezitiert auf der Bühne. „Guilty Pleasures“, schuldige Vergnügungen, sind das Thema von „Mathieu“, wer immer dieser Matthäus ist. Und es geht um Rosamund Pilcher und Lamourhatscher, wie in Wien die gefühlvolle Tanzmusik, die das Herz presst, bis es schmerzt, Mitte der 1950er Jahre genannt worden ist. Noch ein wenig zurückgedacht, könnte man die Romane der Hedwig Courths-Mahler (1867-1950) nennen, oder den Film „Love Story“, einen Schmachtfetzen von 1970 zur Musik von Francis Lai. Man badet in Gefühlen und fühlt sich danach „guilty“, weil man sich ein wenig Kitsch gegönnt hat. „Last Christmas“ wird jetzt nicht erwähnt. Das hört man seit 40 Jahren heimlich, damit man bei der Frage, „mögen Sie diesen Song“, mit dem Brustton der Überzeugung sagen kann: „Nein“. Ich gab dir mein Herz, doch du hast es weggeworfen“, wem da nicht die Tränen kommen!Hugo Le Brignad. Rükenansicht.
So nebenbei wird auch in Wort und Musik zitiert aus Schnulzen des vergangenen Jahrhunderts, doch wird das heutige Publikum damit nicht sekkiert. Hugo Le Brigand tanzt, hüpft auf einem Bein mit hochgeschobenen Hosenbeinen allerliebst durch den unsichtbaren Tempel und darf am Ende den aus einer Leuchtröhre geformten Schriftzug, der auch den Titel hier schmückt, präsentieren. Sebastiano Sing outet sich als Dichter und rezitiert eindrucksvoll sein Poem mit verschobenen Verben. Später haucht er stumm ins Mikrofon, vor dem leuchtenden Ventilator, der einen kalten Luftzug erzeugt, den Nebel vertreibt und dem Publikum Ärger und Sorgen aus dem Kopf weht. Ernst Lima atmet und singt nicht nur für die weiße Blume.Ernst Lima singt mit dem Atem und im nächsten Auftritt mit der Stimme, erzählt über ihre Gefühle mit der Gitarre. Das Trio trifft sich nur hinter den Säulen, wo nach jedem Auftritt die Sitzgelegenheiten warten, auf der Bühne ist jeder mit sich allein. Doch „man braucht Illusionen, um nicht allein zu sein“, singt Ernst Lima laut und leise, einschmeichelnd und befehlend. Die Musik schwillt an und zieht sich zurück, der letzte Mönch huscht weg, samtige Schwärze hüllt das Publikum ein. Aus.
Mit magischer Poesie schwingt diese Trippelperformance durch eine knappe Stunde, neblig, empfindsam, romantisch. Und ich notiere, dass Form und Inhalt eine Einheit sind, eine präzise erarbeitete, großartige und ebenso unterhaltsame Einheit. Schuldig fühle ich mich nicht, dieser romantischen Séance beigewohnt zu haben.

Sebastiano Sing: „Mathieu“
Inszenierung, Choreografie, Text: Sebastiano Sing. Choreografie, Performance:  Hugo Le Brigand, Ernst Lima, Sebastiano Sing. Sounddesign und Live Sound: Ernst Lima; Lichtdesign: Joe Albrecht; Bühne: Sebastiano Sing.
Premiere: 13. März 2023. Weiter Vorstellungen: 14., 15. März 2023, brut im Projektraum des Wuk.
Fotos: Christiane Peschek