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Tanzende Gliedermännchen: Anmut und Energie

Vier Körper, angetrieben von einer unbekannten Kraft.

Bizarre Figuren liegen auf dem weißen Boden, schwarz und bewegungslos, vier mal vier Gliedmaßen. Eine Käferkolonie könnte es sein, müde Marionetten oder auch Maschinen. Plötzlich das Zucken eines Beins, ein Impuls im Körper, ein Hochreißen eines der Tentakel, und schon ist wieder Ruhe. „Vis motrix“ nennt die Bonner Company CocoonDance unter der künstlerischen Leiterin und Choreografin Rafaële Giovanola das Stück für vier Tänzerinnen. Seit 2018 hält es sich im Repertoire der Company. Nachdem CocoonDance „vis motrix“ 2022 im Osterfestival Tirols gezeigt worden ist, sind die elektrisierenden 40 Minuten auch im Dschungel Wien zu sehen gewesen.

Gruppenbild mit Schatten: Die Tänzerinnen in "vis motrix".Wieder einmal ist der Beweis erbracht, dass Intensität und Dichte einer Performance nicht das Geringste mit deren Länge zu tun hat. Bert Brecht hat diese Binsenweisheit so formuliert: „Getret’ner Quark wird breit, nicht stark“. Als in einem anderen Leben mögliche Kürzungsdramaturgin kann ich ihm nur recht geben. Doch in diesem Tanz, in dem die fremdartigen, kaum noch menschlichen Körper sich flach auf dem Boden liegend nur auf dem Rücken bewegen, Arme und Beine in der Luft tanzen lassen, hat Bert Brecht nichts zu sagen, es ist Heinrich von Kleist, der die Inspiration liefert, zumindest für den Titel: „vis motrix“, die Kraft der (anmutigen) Bewegung. In seinem Essay „Über das Marionettentheater“, notiert als fiktives Gespräch, schreibt Kleist dem „Gliedermann“ ein Maximum an Ebenmaß, Beweglichkeit und Leichtigkeit zu und meint, der größte Vorteil sei, dass sich eine Puppe „niemals ziere“, weil sie ohne Bewusstsein sei.

Denn Ziererei erscheint, wie Sie wissen, wenn sich die Seele (vis motrix) in irgend einem andern Puncte befindet, als in dem Schwerpunct der Bewegung. Da der Maschinist nun schlechthin, vermittelst des Drathes oder Fadens, keinen andern Punct in seiner Gewalt hat, als diesen: so sind alle übrigen Glieder, was sie sein sollen, todt, reine Pendel, und folgen dem bloßen Gesetz der Schwere; eine vortreffliche Eigenschaft, die man vergebens bei dem größesten Theil unsrer Tänzer sucht.*)Vier Körper in steter Anspannung.

Der Ausdruck „vis motrix“ stammt vom Physiker Isaac Newton (1642–17269), der wie alle Menschen, die eine Schule besuchen durften, Latein gesprochen hat. Newton definierte die bewegende Kraft (vis motrix) als „Ursache jeder Änderung des Bewegungszustandes.“ Von dieser Kraft sind auch die vier transhumanen Figuren auf dem Bühnenboden angetrieben. Nach Kleist sind sie, wie Tiere oder Maschinen, ohne Bewusstsein und „ohne Ziererei“, bewegen sich „anmutig und mit Leichtigkeit“, doch die menschlichen Körper der vier Tänzerinnen haben eine kaum vorstellbare Spannung, sind voll Kraft und Energie. Dieses Gleiten und Rutschen, als seien sie durch einen geölten Mechanismus unter dem Schwerpunkt angetrieben, das Zucken und Aufschnellen, die rasanten Drehungen um 180 Grad, die Zeitlupenbewegungen, all das erzeugt einen hypnotischen Sog.Die Bewegung im Gleichklang und individuell erzeugen Sinnestäuschungen. Im ausgeklügelten Licht erscheinen Schattenbilder der Körper an der Wand und auch auf dem Boden. Wer steuert diese noch nie gesehenen Körper, was bewegt die humanoiden Wesen, die einander nicht kennen, einander niemals berühren und ansehen? Choreografin Rafaële Giovanola gibt keine Antworten, entführt die Zuschauer:innen in eine andere Welt und lässt sie darüber sinnieren, wie es mit dem Menschengeschlecht weitergehen wird.Ein kurzes Aufbäumen am Ende bleibt erfolglos.
Fa-Hsuan Chen, Martina De Dominicis, Tanja Marin Friõjónsdóttir, Susanne Schneider (alternierend mit Marie Viennot), gehen an die Grenze des physisch Möglichen, ihre Körper sind in stetiger Spannung, die Hüften sind beweglich und auch in die Extremitäten scheinen Scharniere eingebaut zu sein. Der Energiestrom, der sie ständig durchpulst, ist nahezu sichtbar. Faszinierend.
Den anfangs dezenten Sound liefert der Komponist Franco Mento. Gegen Ende schwillt die Weltraummusik an, die Körper bäumen sich auf, stehen stampfend für Sekunden aufrecht, als ob sie gegen diese fremde vis motrix, die sie antreibt, rebellieren wollten. Dann aber sinken sie wieder zusammen, bleiben fremdbestimmte Wesen, Maschinen, Käfer, Automaten.

CocoonDance setzt mit der Produktion die Suche nach dem noch ‚ungedachten‘ Körper fort: Transhumanismus als traumatischer Tanzreigen, der unser Unbewusstes nicht unberührt lässt. (Pressetext der Company)

CocoonDance: „Vis motrix“, internationales Gastspiel im Dschungel Wien, 8. März 2023.
Choreografie: Rafaële Giovanola; Dramaturgie, Konzept: Rainald Endrass. Komposition: Franco Mento; Licht, Bühne: Gregor Glogowski.
Von und mit: Fa-Hsuan Chen, Martina De Dominicis, Tanja Marin Friõjónsdóttir, Susanne Schneider / Marie Viennot.
Fotos: © Klaus Fröhlich
*) Quelle: wikisource