Akram Khan: „Jungle Book reimagined“, ImPulsTanz
Akram Khan warnt vor dem klimatischen Kollaps und fordert Respekt für die Natur. Als Tänzer hat er begonnen, jetzt will er vor allem Choreograf und Regisseur sein, als Solist will er nicht mehr auf der Bühne stehen. Für seine neue Tanz-Show hat er Rudyard Kiplings Erzählung von Mowgli, der im Regenwald von Wölfen aufgezogen wird, als Basis gewählt und trendig aktualisiert. Die Klimakrise steht im Zentrum. Mit großartigen Tänzer:innen, einer filmtauglichen Musik und künstlerischen Animationen kann er im Burgtheater das Publikum des ImPulsTanz Festival begeistern.
Gewitter und Regen lassen die Meere steigen, Elizabeth Tower samt Big Ben und Eiffelturm versinken im Wasser. Die Migrantenfamilien, die sich aus der glühenden Wüste gerettet glauben, sitzen auf schaukelnden Flößen, müssen weiter fliehen. Ein Kind fällt ins Wasser, verschwindet. Mowgli ist in dieser neu gedachten Geschichte ein Mädchen, die Tiere leben nicht mehr im Wald und sind angeblich in die menschenleere Stadt gezogen, wo kaum noch Ruinen stehen. Das Meer ist übergeschwappt.
Die drohende Unbewohnbarkeit der Erde kann, so wird dem Publikum auch wörtlich eingehämmert, nur durch das friedliche Zusammenleben von Mensch und Tier und den Respekt vor der Natur verhindert werden. So eindringlich und gebetsartig, wie die Botschaft von einer imaginären Kanzel aus dem Off (mit den Stimmen der Tanzenden) verkündet wird, sollte Mowgli besser Greta heißen.
Wie auch immer, das Kind landet, vom Wolfsrudel gerettet, im Dschungel der Großstadt. Die Menschen haben die versinkenden Städte verlassen, die Tiere haben sie erobert. Ein einziger böser Zweibeiner schleicht noch umher, fuchtelt mit dem Gewehr, schießt Vögel ab und tötet den Drachen. Wären da nicht die aggressiven Affen, zeigte die Bilderflut, dass die Tiere die besseren Menschen sind. Aber auch den Affen muss man verzeihen, sie sind, wie alle anderen Tiere in der menschenleeren Stadt, verletzt, von den Menschen eingesperrt, gequält und missbraucht worden. Nicht verwunderlich, dass sie von den Menschen genug haben, sie nicht mehr in der Nähe haben wollen. Doch Mowgli, edel und gut, darf bleiben,h bis sie erwachsen ist. Sie hilft bei der Nahrungssuche, lernt zu arbeiten. Die Affen stören die Idylle. Sie wollen das Feuer besitzen und entführen Mowgli, damit sie es ihnen schenkt. Die anderen Tiere sind dagegen, sie wissen, mit dem Menschenwerk können Tiere nicht umgehen.
Akram Khan hat eine besondere Beziehung zu Rudyard Kiplings 1894 erzählter Geschichte vom Findelkind, das im indischen Dschungel aufwächst. Die Wurzeln des 1974 in London geborenen Tänzers und Choreografen liegen in Bangladesch, und den Mowgli, den hat er als Kind selbst auf der Bühne verkörpert. Die Uraufführung der aktuellen Geschichte aus dem Dschungelbuch hat im April 2022 im Curve Theatre von Leicester an acht aufeinanderfolgenden Tagen stattgefunden. Danach hat die große Tournee durch Europa inklusive eines Ausflugs nach Seoul begonnen. Bis März 2023 ist die Akram Khan Company ausgebucht.
Mit der filmischen Vorgeschichte, den bewegten Zeichnungen der Tierherden und der Mutter, die geisterhaft vor Greta-Mowglis Augen erscheint, um sie zu ermahnen und belehren, den großartigen, energiegeladenen Tänzern und der emotionalen Musik spielen Khan und sein geniales Team effektvoll auf dem Gefühlsklavier. Die Bilder sind magisch und betörend. Die zehn Tänzer:innen sind tatsächlich Tiere. Gleich gekleidet, bewegen sie sich geschmeidig, meist synchron als Gruppe, lässig und entspannt und gleich danach rasend schnell mit Bocksprüngen und tiefen Kniebeugen. Mit der Geschwindigkeit ihrer Bewegungen, den harten Tritten und gelenkigen Beinen erinnert die Gruppe auch an den Kathak, den indischen Tanz, den Khan in Europa bekannt gemacht hat.
Beeindruckend sind die Animationen der Tierwelt, lediglich weiße Linien zeigen ruhig ziehende Elefantenherden und huschende Mäuse, galoppierende Giraffen und Dromedare auf Nahrungssuche. Mowgli, Balu, Wölfe und Affen werden von den Tänzer:innen verkörpert, wie auch Kaa, die sich als Kette von mehreren Tänzer:innen über die Bühne schlängelt. Gedämpft wird die Begeisterung über die schöne, wenn auch pathetische Show, durch Khans Moralisieren und Predigen. Die Texte hat Tariq Jordan geschrieben. Er beschreibt sich als „Autor und Schauspieler, russisch-jüdischer und irakisch-muslimischer Abstammung, geboren und aufgewachsen in London.“ Tanz und Video sagen genug, und ich fühle mich als Zuschauerin missachtet. Theater- oder Tanzpublikum hat es meist nicht notwendig belehrt zu werden, gepredigt wird in der Kirche, im Theater sollte Raum für eigene Gedanken bleiben, die Katharsis sollte läutern. Das ist der Vorteil des Tanzes und der Musik, Worte sind nicht notwendig.
Doch Regisseur Khan muss auch noch fettes Pathos draufsetzen. Nach der Pause – das Spektakel dauert, inklusive Pause, 130 Minuten – wird der Kitschtopf geöffnet. Sakrale Musik, erleuchtete Kirchenfenster, dahinter verbirgt sich der schießwütige Jäger, vielleicht ist er auch ein Soldat, jedenfalls ist er böse. Aus Jux und Tollerei schießt er auf den Vogel, während die geflügelten Kollegen die Vogelleiche zum Himmel fliegen (eine süße Szene im animierten Film), wie die Sylphiden es mit ihrer verblühten Artgenossin tun. Auch der Drache muss daran glauben. Das reicht Mowgli. Sie schnappt sich das Gewehr, macht es unbrauchbar, der Mensch ohne Waffe ertrinkt in den Wellen. Ja, das hat ihr auch die Mutter gelehrt: Wenn Böses geschieht, darf man sich wehren. Mowgli ist also erwachsen geworden. Sie muss den Wald verlassen und macht sich auf, die Welt zu retten. So sei es!
Akram Khan Company: „Jungle Book reimagined“
Regie und Choreografie: Akram Khan. Text: Tariq Jordan. Komposition: Jocelyn Pook; Soundesign: Gareth Fry. Art Direktion und Animation: Adam Smith (YeastCulture; Videodesign: Nick Hillel (YeastCulture).
Performer:innen: Lucia Chocarro, Tom Davis-Dunn, Harry Theadora Foster, Thomasin Gülgeç, Max Revell, Matthew Sandiford, Pui Yung Shum, Holly Vallis, Vanessa Vince-Pang, Jan Mikaela Villanueva. 23., 25., 26. Juli 2022. Burgtheater / ImPulsTanz Festival
Fotos ©: Ambra Vernuccio.