Karin Pauer: „The Score“, brut am Schwendermarkt
Die Tänzerin / Choreografin Karin Pauer und der bildende Künstler Aldo Giannotti haben ein Stück über die Entstehung eines Stückes konzipiert und zeigen in acht Kapiteln alle Elemente, die dazu nötig sind. Mit Karin Pauer tanzen im brut am Schwendermarkt Lau Lukkarila und Arttu Palmio.
Die passende Übersetzung für den englischen Begriff „score“ erscheint mir in diesem Fall „Partitur“. Aldo Giannotti hat die Partitur bereits vorgegeben, sie ist fertig, der Prozess des Zeichnens und Schreibens ist abgefilmt und wird mittels kleiner Projektoren am Plafond auf die papierweiße Bühne projiziert. Dieses Bilderwerfen funktioniert auch umgekehrt: Weiß auf Schwarz.
Magische Momente, als ob die Tanzenden Schrift und Zeichen generieren würden. Die Magie bleibt erhalten, auch wenn die Projektoren über den Köpfen entdeckt sind.
Erstes Kapitel: Die Tänzerinnen und der Tänzer stellen sich vor, zeigen ihre schönen, geschmeidigen Bewegungen auf der nun dreigeteilten Bühne, Giannotti hat für sie drei Kreise gezeichnet. Davor haben Pauer und Giannotti eine Einleitung gesprochen, die muss man nicht verstehen, sie sprechen die unterschiedlichen Texte unisono. Im 2. Kapitel geht es um die Zeit, alle drei stehen in der Gegenwart, die Zukunft ist zu sehen, nicht weit entfernt, schon liegt hinter ihnen die Vergangenheit, die Zukunft davor, dann existiert nur noch die Gegenwart. Das Publikum ist nun an der Reihe. Arttu Palmio und Lau Lukkarila unterhalten sich, vielleicht auch das oder ber das Publikum, doch sie sprechen in ihrer Muttersprache, Finnin mit Finnen. Macht nix, alle Kapiteltitel erscheinen als Schrift auf dem Videoschirm, der zugleich mit Füßen getreten wird, weil er die Tanzbühne ist. Karin Pauer spricht allein, noch bleiben die drei getrennt. Doch im 5. Kapitel dieses nur in den Grafiken, mit Linien und Pfeilen, Kreisen und Vierecken fertigen Stückes geht es um den Platz. Palmio und Lukkarila haben bereits den Sportdress angezogen, die Schuhbänder fester geknüpft und kämpfen nun darum, um den Platz. Weniger Geschmeidigkeit als Energie und Wildheit und kleine Kniffe, zarte Hiebe. Gewinnen kann keiner, in einer Choreografie ist immer genügend Platz für alle.
Auch die nicht gezeigte Szene (the deleted scene) sehen wir, und dann bekommt jede der Ausnahmetänzerinnen samt dem Ausnahmetänzer ihr / sein Solo. Großartig, ich könnte stundenlang zuschauen, natürlich vor allem Karin Pauer. Ihre eleganten, weichen Bewegungen widersprechen oft ihrem Blick, der Widerstand und Zielgerichtetheit zeigt. Lau Lukkarila ist eine kräftige Tänzerin, wie sie es schafft, dass sie schwebt, sollte ich demnächst ergründen. Und Arttu Palmio! Wie Karin Pauer tanzt er auch in der Formation Liquid Loft (Christ Haring), auffallend durch seine feste Muskulatur und das blonde Haar. Auch er ein Tänzer, von dem ich den bewundernden Blick nicht wenden kann, so klar ist sein Tanzsprache, so belustigt kann er mitunter schauen, dann lässt er die Augen vor Ironie blitzen. Nicht zu vergessen, Lukkarilas Gesang. Obwohl manche Textpassagen lippensynchron zur aufgezeichneten Stimme gemimt werden, singt Lukkarila live, laut, röhrend und jubelnd, auf Finnisch natürlich. Das kann sie also auch, und wie.
Nach dem 6. Kapitel, dem Solo fehlt nicht mehr viel für eine perfekte Ausführung der Choreografie. Das Trio kommt zusammen, die Tanzenden berühren einander, verschlingen sich zu einer Einheit, ihre verzerrten Schatten sind tiefblau. Klar wird mir jetzt, dass es nicht nur um ein Tanzstück geht, sondern auch um Möglichkeiten der Kommunikation außerhalb des geschützten Tanzraumes, der Szene, in der wir uns alle mehr oder weniger einig sind, außerhalb der Körper der Tänzer*innen mit den eingeschriebenen Bewegungsmustern und dem wohlwollenden Interesse des Publikums und seiner Imaginationskraft. Wie bewegen wir uns in der Gesellschaft, in Zeiten von Krisen und virenbepackten Aerosolen? Eine fertige Choreografie, schwarz auf weiß oder auch weiß auf schwarz, gibt es da nicht.
Das Finale (Nummer 8 im Inhaltsverzeichnis) steigert sich zum Höhepunk. Die Körper wippen und schaukeln, sind wieder auseinandergefallen, jeder auf der eigenen Bühne. Mit Armen und Beinen werden die letzten, sich immer mehr verdichtenden Linien getanzt, die Musiker an den Reglern drehen auf höchste Lautstärke. Ein Dschungel aus Bild, Ton und Bewegung. Großartig! Meine Nachbarin reißt sich vor Begeisterung die Maske vom Gesicht, um laut jubeln zu können. Zum Dank für diese schöne, intelligente, klare und fein bewegte Performance.
Karin Pauer & Aldo Giannotti: „The Score“: Konzept und Choreografie: Karin Pauer & Aldo Giannotti; Visuelles Konzept: Aldo Giannotti. Entwicklung und Performance: Lau Lukkarila, Arttu Palmio, Karin Pauer. Sound: Andreas Berger & Track „Says“ von Nils Frahm; Licht: Sveta Schwin.
Uraufführung: 16. Oktober 2020, brut am Schwendermarkt / VHS Rudolfsheim-Fünfhaus.
Aufführungen auch am 17., 19. und 20. Oktober 2020.
Fotos: © Erli Gruenzweil