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DV8: „Enter Achilles“, Ballet Rambert, St. Pölten

Ballet Rambert tanzt "Enter Achilles" © Hugo Glendinng

In der Gaststätte herrscht eine ausgelassene Stimmung, Männer bewegen sich mit Biergläsern in den Händen zu Klassikern des Brit-Pop und -Rocks. In stürmischen Gruppenszenen kommt es immer wieder zu Kämpfen zwischen den Männern, wie auch intimen Annäherungen und leidenschaftlichen Umarmungen. In diesen vielschichtigen Spielen werden die Codes von Männlichkeit definiert: Wie weit kann ich gehen, ohne dass es dem Anderen zu viel wird? Wo endet das Spiel, wo beginnt die Grenzüberschreitung? Das Spiel der zärtlichen Liebkosungen und brutalen Attacken besteht darin, die unsichtbare Grenze von Hetero- und Homosexualität auszutanzen.

Im Pub wird getanzt und auch gerauft. © Miguel AltunagaHierbei sticht der in einem Angriff enttarnte Supermann Georgios Kotsifakis hervor. Er symbolisiert das Andere, der wegen seiner eigenwilligen Bewegungsart, selbst in angepasster Kleidung, nicht richtig in die Gruppe passt, aber dennoch (oder eben gerade deswegen) auf reges Interesse der anderen Männer stößt. In einer darauffolgenden Szene kommen sich der Supermann und ein Kneipen-Tänzer bei einem von der Decke senkrecht hängendem Seil näher. Zwischen den beiden entsteht ein waghalsiger Tanz in den Lüften, der auf Vertrauen basiert und gleichzeitig ein gewaltiges Absturzrisiko in sich trägt. Sie nehmen die Gefahr auf sich und finden in der Schwerelosigkeit, fernab der Realität, zueinander. Denn im männlichen Biergetümmel sind solche Liebschaften unmöglich, homosexuelle Gefühle oder sonstige „queere“ Liebesvorstellungen sind untersagt:  Harmlose Umarmung oder Beginn der Zärtlichkeiten? Die Regeln geben die anderen vor. Alle Fotos. © Miguel AltunagaIm Schlussakt wird auf brutale Art und Weise die geliebte Plastikpuppe von einem der Betrunkenen zerstört. Das Blut spritzt, die Puppe ist tot. Der Mann, dem seine Puppe mit Gewalt entwendet worden ist, bleibt zerbrochen am Boden liegen, ein Erdbeben setzt ein, während der Supermann ein klagendes Abschiedslied singt.

Während einer zweiwöchigen Residenz hat Choreograf Lloyd Newson gemeinsam mit dem Ballet Rambert und Sadler’s Wells „Enter Achilles“ überarbeitet. Die Wiederaufführung knüpft an aktuelle Debatten an, behält aber den Grundtenor der kritischen Inszenierung von Männlichkeit bei. Das Tanztheater liefert durch Sprechtexte Denkanstöße zur #MeToo-Bewegung, Nationalismus und Brexit. Newson arbeitet diesmal mehr mit (oft schwer verständlicher) Sprache als bei der Uraufführung. Wann sind die Grenzen der Männerspiele überschritten? © Miguel AltunagaGeprägt durch die homophoben Alltagsbeobachtungen und ausgehend von der These, dass Gewaltopfer in England hauptsächlich Männer sind, fragt sich Newson, durch welche Körpernormen Männer unterdrückt werden. Welche Gesten muss ein Mann beherrschen, um in einer Gruppe Anerkennung zu finden? Der Choreograf begreift männliche Körpercodes unter anderem als Schutzfunktionen für homosexuelle Männer, die durch Imitation von gängigen Körpervorstellungen Attacken entkommen können. Die Grenzen von (scheinbarer) heterosexueller Männlichkeit sind Thema der Aufführung.Muss ein Mann ein Macho sein, wenn er von anderen Männern akzeptiert werden will? © Hugo Glendinning Die radikale Botschaft der sozialen Konstruktion von Männlichkeit wird dem Publikum erfolgreich vermittelt.
Einen Ausweg aus der gewaltvollen Geschlechter-(Re)Produktion scheint es nicht zu geben, die patriarchalen Machtstrukturen verletzen Männer und Frauen. Wobei der frauenspezifische Standpunkt von Newson nicht klar dargestellt wird, die brutale Misshandlung der Frauenpuppe hinterlässt ein symbolisches Fragzeichen. Daher kann er seinem Anliegen „jede Geste für das Publikum verständlich zu machen“ nicht gänzlich gerecht werden. Er schafft es aber, seinen sehr persönlichen und politischen Blickwinkel klar darzustellen, Choreograf und Tänzer: Lloyd Newson, geboren 1957. © Fiona Cullendamit „die Leute zum Nachdenken anfangen.“

Lloyd Newson ist in Australien geboren und hat sein Studium der Soziologie und Psychologie 1978 an der Melbourne University abgeschlossen. Anfang der 1980er Jahre erhielt er ein Stipendium für die London Contemporary Dance School. 1986 gründete er die Tanzcompany DV8, die er bis in die Gegenwart leitet. Im Laufe seiner Karriere hat der Tänzer und Choreograf 55 (inter-)nationale Preise erhalten, im Jahr 2013 hat ihn das Berufsgremium britischer Kritiker für Tanz, Theater, Film, Musik, bildende Kunst und Architektur (Critics' Circle) zu den „100 einflussreichsten Personen in der Kunst der vergangenen 100 Jahre“ gezählt.

Ballet Rambert / DV8: „Enter Achilles“, Konzept und Regie: Lloyd Newson (DV8 Physical Theatre); Choreografie: Lloyd Newson mit den Performern (frühere und heutige), Bühnenbild: Ian MacNeil; Komposition: Adrian Johnston; Licht: Jack Thompson; Kostüme: Kinnetia Isidore, Richard Gellar; Licht: Loren Elstein
Performer: Richard Cilli, Tom Davis Dunn, Nelson Earl, Miguel Fiol Duran, Ian Garside, Eddie Hookham, Scott Jennings, Georgios Kotsifakis, Jag Popham, John Ross (Ballet Rambert). Eine Ballet Rambert & Sadler’s Wells Koproduktion; 14. Februar 2020, Festspielhaus St. Pölten.