Nikolaus Adler: „Sing no more …“, Tanz im Wuk
Der schöne Titel, ein Zitat aus Homers „Odyssee“, muss genossen werden: „Sing no more this bitter tale, that wears my heart away“ / “Erzähle mir nicht mehr diese traurige Geschichte, die mein Herz zernagt“. Mit vier Tänzer*innen zaubert Nikolaus Adler ein Stück mit doppeltem Boden und mehreren Ebenen auf die Bühne. In der Ausstattung von Ariane Isabell Unfried tanzen und arbeiten Etienne Aweh, Laura Fischer, Katharina Illnar und Chris Wang. Die Uraufführung im WuK hat gezeigt, dass jede(r) diese Reise des Odysseus auf eigene Art lesen, durch eigene Assoziationen interpretieren kann. Und wem gar nichts einfällt, die / der darf schlicht in die getanzte Geschichte und die wechselnden Bilder eintauchen.
Es geht also um Odysseus, der nach dem trojanischen Krieg zehn Jahre über die Meere kreuzt, bis er endlich nach Hause findet, wo seine Frau, Penelope, treu und geduldig gewartet und alle Freier abgewiesen hat. Doch Odysseus und seine Irrfahrten sind nur eine Metapher für das Leben, die Suche nach Freiheit und Selbstbestimmung. Mit zahlreichen Zitaten aus Filmen und Literatur gewürzt, erzählt Adler die abenteuerliche Geschichte von Anfang aller Zeiten an, vom Nebel, der die Welt erfüllte, bevor die Finsternis den Tag und die Nacht gebar und Wasser, Erde, Feuer und Luft schuf. Mythos eben. Nur den Krieg, den haben die Götter und die Menschen selbst geschaffen. Von Gaia, der personifizierten Erde und eine der ersten griechischen Göttinnen, ist keine Rede mehr, doch der Krieg ist immer präsent.
Die Odyssee, gelesen, gelernt, bekannt, oder nicht, ist an sich schon eine Metapher für sinnloses im Kreis wuseln und eine Reise, die das Leben ist. Sie erzählt von Abenteuern und Verführung, und wie man dieser widersteht; von Gier und Vergessen, von Erinnern und Irren und von der Liebe, der Treue und der Heimkehr.
Dass Nikolaus Adler sich keiner herrschenden Mode und keinem diktierten Motto für eine Aufführung unterwirft, selbstbestimmt weiterhin Geschichten erzählt, die so oder so politisch sind, weil sie immer mit dem Publikum, also uns allen, zu tun haben, kann nicht laut genug gepriesen werden. Es finden sich in der Freien Tanzszene nur wenige Choreograf*innen, die sich nicht dem allgemeinen Diktat unterwerfen, sondern Wert auf eine durchdachte, präzis erarbeitete und geprobte Performance mit ausgezeichneten Tänzer*innen legen und – da haben wir’s wieder – selbst bestimmen, was zeitgenössischer Tanz ist. Adler gehört dazu.
Doch erzählt er nicht nur auf der narrativen Ebene, sondern auch auf andere Weise von dieser trügerischen Idee der Selbstbestimmung. Die Tänzer*innen sind zugleich Licht- und Musikmeister, Bühnenarbeiter und -techniker. Die vier tanzen und spielen nicht nur, sondern erledigen auf offener Bühne auch alle Arbeiten, die für eine Aufführung notwendig sind und meist, wie von Geisterhand vollzogen, automatisch geschehen. Trügerisch ist diese Selbstbestimmtheit im Leben, wie die Neurowissenschaft längst festgestellt hat, und auch auf der Bühne, denn es gibt ein gut geprobtes Konzept und der Choreograf hat das letzte Wort.
Überdies ist Adler auch ein Cineast und kennt sich in der filmischen Literatur aus. Doch er ist kein Geheimniskrämer und lässt diesmal die Zuschauer*innen auch hinter die Kulissen schauen, zeigt ihnen auch das Making-of. So hantiert das Quartett mit der Nebelmaschine und der Lichtblende, sucht sich (scheinbar) die Kostüme aus, denn sie sind alles, Mann und Frau, Odysseus, Penelope, der Geist der toten Mutter (die Odysseus bei Homer in der Unterwelt trifft) und der Seher Teiresias und ebenso vier exzellente, kraftvolle und ganz sanfte Tanzkörper. Diese Mehrfachrollen rücken die Szenen der Erzählung immer wieder auf Distanz, und damit das Publikum sich nicht ganz der Stimmung hingibt und im Raum aus Licht (Markus Schwarz), sorgsam ausgewählter Musik (von Vivaldi und Purcell bis Laurie Anderson und jeder Menge Filmmusik, Beratung und Sounddesign: Wolfgang Urban) und Bewegung im Pathos des Mythos untergeht, zwinkert uns Choreograf Adler immer wieder zu, mimt den Gesang der Sirenen mit einem Megaphon und lässt uns über die magische Schrift auf der Tafel wissen: „Die Zeit hat ihre Schuldigkeit getan, sie ist vergangen.“ Schmunzeln ist erlaubt.
Um diese Suche nach Freiheit und Identität noch deutlicher zu machen, bewegen sich die Tänzer*innen anfangs wie Marionetten, tragen Masken und werden geführt und gelenkt, mechanisch im Takt der Trommel bauen sie die Schiffe. Doch sehr bald verschwimmt der Unterschied zwischen Führern und Geführten und es nicht zu unterscheiden, ob die Gelenkten nicht zugleich die Lenker*innen sind. Besonders intensiv habe ich die Szene in der Unterwelt empfunden, wenn Odysseus dem blinden Teiresias begegnet, der ihm Ratschläge für die Weiterreise gibt und dabei mit seinem Stock kleine und große Kreise zieht. Da weiß ich, dass wir alle Odysseus sind, auf unserer Irrfahrt durchs Leben dauernd im Kreis segeln bis wir meinen, endlich angekommen zu sein.
Nikolaus Adler, der als Tänzer im Staatsopernballett begonnen hat und seit 1995 als Choreograf international tätig ist, liebt es, Geschichten zu erzählen, und das ist gut so: „Der Mensch ist ein narratives Wesen, von Anfang an. Unsere Beziehungen leben davon, dass wir uns Geschichten erzählen.“ (Paulus Hochgatterer)
Nikolaus Adler: „Sing no more this bitter tale …“, Tanz-Performance. Konzept, Choreografie: Nikolaus Adler. Tanz, Choreografie: Etienne Aweh, Laura Fischer, Katharina Illnar, Chris Wang. Bühne, Kostüme: Ariane Isabell Unfried; Licht: Markus Schwarz; Musikalische Beratung, Sounddesign: Wolfgang Urban; Dramaturgische Beratung, Requisite: Sophie Eidenberger; Kostümanfertigung: Susi Schaumburg; Bühnenbau: Eric Kläring, Florian Mayr; Produktion: Roma Janus. Fotos: © Katharina Gossow. Uraufführung: 14. Februar 2020, Wuk.
Folgevorstellungen: 14., 15., 16.; 19., 20., 21., 22. Februar 2020.