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Jefta van Dinther: „The Quiet“, Tanzquartier

Aus dem Dunkel ins Licht: "Quiet"

Ein Höhepunkt der zu Ende gehenden Halbsaison im Tanzquartier. Jefta van Dinther zeigt mit fünf Tänzerinnen aus dem Cullberg Ballet „The Quiet / Die Ruhe“. Ein dunkles Tanzstück wie ein Traum. Mit alltäglichen Bewegungen gehen die Frauen singend, sprechend und betend ihrer Wege. Die Zeit bleibt stehen. Uraufgeführt im Frühjahr 2019 in Berlin, hat das jüngste Werk des schwedischen Choreografen am 12. Dezember in Wien Premiere gehabt.

Der Sessel ist nicht nur Ruhepol, er ist auch Gepäck und Waffe.In einem offenen Haus, von dem nur die Strukturen zu sehen sind, tanzen die Frauen auf verschlungenen Pfaden, verlassen das Haus, um wieder zurückzukehren, vereinen sich, zu zweit, zu dritt, bilden einmal eine Kette und tauschen miteinander, wörtlich und mit Gesten, uralte Erinnerungen und Traditionen aus. Dämmerlicht lässt die hellen Kostüme leuchten, von den Gesichtern ist anfangs nichts zu sehen. Über den Röcken und kurzen Hosen tragen alle rosafarbene wattierte Schutzwesten. Sie bewegen sich innerhalb und außerhalb des Hauses, tanzen durch Raum und Zeit. Oder, mit Richard Wagner gesagt, „die Zeit wird hier zum Raum“. Alte Rituale, wie die Anbetung eines leuchtenden Mondes oder das Ritual am Feuer, werden wach; die neue Zeit spiegelt sich in den kleinen Sätzen und in einer langen Rede aus dem off: „Je mehr wir erzählen, desto realer wird es.“
Auch die Rede scheint einem Traum zu entstammen, sie mäandert um ein Thema und gegen Ende wird das Wort „quiet“ wiederholt, in dem die Stimme immer leiser und leiser und leiser wird. Ein schöner Traum, dem ich mich ganz hingebe. Die Falltür ist hochgeklappt, im Untergrund lodert ein Feuer.
Wie die Nornen sitzen drei vor einem Feuer, das aus der Tiefe leuchtet, nachdem am Rand der Bühne eine Falltür geöffnet worden ist. Sie summen und singen mit der wohltuenden Musik und warnen vor der täglichen Hetzjagd, die unsere Tage prägt. Der Rat aus China: „Wenn du es eilig hast, gehe langsam“, gilt auch für Europa. Die fünf Frauen kennen den Satz, das Wissen ist seit Generationen weitergegeben worden. Van Dinther meint wohl, von Frauen weitergegeben worden, nicht ohne Grund lässt er zum ersten Mal nur Frauen tanzen. Diese Fünf stehen, wie er gern betont, in besonderer Verbindung mit ihm und waren alle wichtig für seine künstlerische Laufbahn. Sie waren zu unterschiedlichen Zeiten Mitglieder von Cullberg, wofür van Dinther zwei abendfüllende Ballette kreiert hat: „Plateaueffect“ (2013 im Tanzquartier) und „Protagonist“ (2017 im Tanzquartier). Er war Teil des künstlerischen Transformationsprozesses, den Cullberg durchlaufen hat und ist seit 2019 (bis 2021) Associated Artist in Stockholm. Die in „The Quiet“ auftretenden Frauen sind zwischen 40 und 60 Jahre alt. So sind sie das lebendige Beispiel für das Erinnern und das Weitergeben der Tradition.Durch die Weste scheinen die Frauen gepanzert.

Van Dinther erzählt, dass ihm die Idee, ein Stück über das Erinnern zu machen, bei der Lektüre des Romans von Linn Ullmann „Die Unruhigen“, in dem sich die Autorin an ihren Großvater Ingmar Bergman erinnert, gekommen ist. Gegen Ende seines Lebens hat Bergman unter Gedächtnisverlust gelitten und hat zwar gewusst, was er sagen will, doch die richtigen Begriffe nicht mehr zur Verfügung gehabt. Er hat von dem „Ding mit den Wänden“ gesprochen, weil er das Wort „Zimmer“ nicht gefunden hat. Das Ding, ohne Wände, steht nun als Gerüst für „The Quiet“ auf der Bühne. Am Ende laufen alle fünf auf sich kreuzenden Bahnen im Haus und außen herum, immer und immer wieder. Meine Ungeduld wird von einer Trance überdeckt, die mich auch zum Träumen verleitet, die Frauen dürfen laufen, so lange sie möchten. So ist das Leben, alles bewegt sich im Kreis, alles wiederholt sich.
Auch die Themen, um die van Dinthers Denken und Schaffen kreist, sind immer ähnlich: Das Sichtbare und das Unsichtbare, Dunkelheit und Affekt, Verschmelzung von Bild, Ton, Licht und Bewegung zu einer Einheit und auch immer wieder die Arbeit. Tänzer und Choreograf Jefta van Dinther, fotografiert von Beata Cervin.
Auch in „Quiet“ wird gearbeitet: Bodenfliesen werden herausgerissen und zu Stapeln geordnet, später auch wieder eingesetzt; ein Zelt wird gebaut, das von innen beleuchtet wird. Bewegt zeichnen sich die Schatten der Tänzerinnen ab. Ich möchte das Ende dieses wunderbaren Tanzstückes hinausdehnen, weiterhin auf die dämmrige Bühne schauen, der Musik lauschen und meine Gedanken spazieren schicken. Doch an diesem Abend hat der Zeitablauf seine Relevanz verloren, die Zeit beweist ihre Relativität, 60 Minuten sind (diesmal) viel zu kurz.

Das Publikum erwacht nur ganz langsam aus der fernen Welt, verzichtet auf das übliche Gejohle, lässt allen Zeit, ins Hier und Jetzt zurückzukehren, der Applaus beginnt spät und spricht für Begeisterung.

„The Quiet“. Choreografie: Jefta van Dinther.
Entwicklung, Performance: Alexandra Campbell, Lisa Drake, Cecilia Roos, Agnieszka Długoszewska, Kristine Slettevold, Linda Adami.
Lichtdesign: Minna Tikkainen; Bühnenbild Kostüm: Cristina Nyffeler. Sound: David Kier, Slowdive (für den Track Falling Ashes). Stimme: Lisa Drake. Text: Jefta van Dinther, Alexandra Campbell, Lisa Drake, Cecilia Roos, Mandoline Whittlesey. 12. – 14. Dezember, Tanzquartier.