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Claudia Bosse: „Thyestes Brüder! Kapital“

L Prohaska, A. Sommerfeld, R. Kern in Düsseldorf. © Robin Junicke

Senecas Tragödie „Thyestes“, aus dem Lateinischen übertragen von Durs Grünbein, bildet die Basis von Claudia Bosses „begehbarer Text-Raum-Choreografie“, die vor dem letzten Akt durch eine Passage aus Karl Marxs Essay „Grundrisse der Kritik einer politischen Ökonomie" ergänzt wird. Beziehungsreich entrollt sich das Drama in einem Speisesaal, der unbenützten Kantine im ehemaligen Siemens Campus in Favoriten. Das Publikum ist mitten drin, wird ergriffen, zum Mitwisser und auch zum Mittäter. Ein großer Abend.

Der Tänzer Mun Wai Lee aus Singapur ist der machtgierige Mörder Atreus. Er spricht ebenso ausdrucksstark wie alle Mitspielenden. Begonnen hat alles mit dem Großvater der beiden Brüder Thyestes und Atreus, dem König Tantalos. Dieser bestahl und betrog die Götter des Olymp, hat sie auch zu einem Dinner eingeladen, bei dem er ihnen seinen toten Sohn als Gulasch vorgesetzt hat. Das war Zeus und seinem Hofstaat zu viel. Tantalos wurde in den Tartaros, den untersten Keller der Hölle (Hades) verbannt, zu nie endenden Qualen verdammt, seine Nachkommenschaft mit einem Fluch belegt, der erst mit der Begnadigung des Muttermörders Orest durch Athene beendet worden ist. Dann endlich waren die Tantaliden (auch Atriden genannt) ausgerottet. Doch das Böse ist nicht wirklich auszurotten, fortzeugend, muss es Böses weiterhin gebären. Machtgier, Hass und Rachsucht, Verschlingen und Ausspeien, sind weiterhin Triebkraft der Täter. Riesig und zugleich intim ist der Speiseaal in dem Darsteller*innen und Publikum agieren.

So hätte ich den von Juri Zanger eindringlich und verständlich gesprochen Text von Karl Marx gar nicht gebraucht, um mich als Mensch des 20. / 21. Jahrhunderts inmitten der zeitgenössischen, fragilen Körper zu fühlen und die vor 2000 Jahren geschriebenen (ausgespienen) Worte des Dichter-Philosophen (und Erziehers des späteren Kaisers Nero), Seneca, auf uns heute, auf mich zu beziehen. Doch Theater darf nicht mehr nur als Theater gesehen werden, das Publikum darf auch nicht selbst den Sprung aus einem alten Text in die Gegenwart machen, Politik jeglicher Art muss immer auf einer Fahne vorher getragen werden.
Nic Lloyd ist der seine eigenen Kinder verschlingende Thyestes. Sei's drum! Das Einverleiben und von sich Geben – Produktion und Konsumption sagt Marx – wird nicht allein durch die Wahl des durch Holzdecke und Kugellampen recht gemütlich wirkenden Raumes, der sich im letzten Akt zur Küche erweitert, wo Thyestes Fleisch verschlingt und Blut schlürft, von dem wir wissen, dass es das Fleisch und das Blut seiner Söhne ist, die Atreus getötet und als Versöhnungsmahl serviert hat, zum zentralen Thema.

Verschlungen und Wiedergegeben werden auch die Verse von Seneca. Darauf konzentriert sich die choreografierende Regisseurin, Claudia Bosse. Wie sie den Text zerlegt und strukturiert, die Sätze zerhackt, sodass nicht nur Inhalt und Verlauf des Bruderkampfes vermittelt (ausgespien) wird, sondern auch die gesamte Palette der negativen Gefühle, die die beiden machtgierigen und neidischen Brüder antreibt, ist großartig. Die  Furie wird Tantalos verfluchen (Rotraud kern, Rückenansicht). Das Unheil nimmt seinen Lauf.

Darf das Publikum im riesigen Speisesaal, in dem sich die Körper der Beteiligten immer wieder zu verlieren scheinen, um sich am Ende jeden Aktes zum Chor zusammen zu ballen, der die Handlung vorantreibt, erzählt, mahnt und auch belehrt, zu Beginn, wenn Großvater Tantalos böse Tat samt Fluch der entfesselnden, wütend geiferndenFurie (Rotraut Kern) erzählt wird, noch von einem Balkon aus auf des Geschehen sehen, so werden bald die Treppen in den Saal frei gegeben und die Gesellschaft, mischt sich, mythologische Figuren und aktuelle Besucher*innen bewegen sich gemeinsam durch den Raum, werden zu einem Körper. Die Teilnehmer*innen im Jugendchor  liegen regungslos, als Leichen auf dem Boden, Thyestes (Nic Llloyd) hat seine Söhne verspeist, und sie haen ihm geschmeckt. Am Ende wird Atreus (Mun Wai Tee) seinem gedemütigten Konkurrenten vor, dass er seine eigenen Kinder verspeist habe. „Und du?“, denke ich, „du hast ihm das Mahl vorgesetzt und die Kinder getötet.“ „Und ich“, mahnt das Unterbewusstsein, „ich habe nichts dagegen unternommen, habe es geschehen lassen.“ Und natürlich das großartige Spiel, der, mit Farbe markierten ausdrucksstarken Körper (nur die Schuhe durften das Ensemble anbehalten) genossen. Aber das ist schon auch der Sinn jeden Schauspiels: Genießen, indem man sich ergreifen lässt und nachzudenken anfängt; eigenen Neid und Hass schrumpfen lässt. Seneca geht auf den Kern der Gesellschaft, die Familie, los, um den Bruderzwist als den Grund allen Übels zu zeigen, aber er meint die Welt (damals ging‘s wohl gegen den Kaiser und seinen Klüngel), in der Gier und Hass, das Fressen und Kotzen einander fortzeugen.Statue des Seneca in Cordoba, seiner Geburtsstadt. (* etwa im Jahre 1 in Corduba; † 65 n. Chr. in der Nähe Roms.) © Rafaelji / wikipedia

Dass es vor dem Großen Fressen eine Zäsur gibt, um für Marx Platz zu schaffen, ist schon gesagt, dass dazu auch der Jugendchor (Junges Volkstheater) in den Saal stürmt und ebenso exakt und eindringlich artikuliert wie die Fünfergruppe, noch nicht. Die jungen Frauen, Männer und Kinder schließen den Kreis von 2000 Jahren (und mehr, stammt der Atriden-Mythos doch aus dem alten Griechenland) und geben der nahezu unerträglichen Geschichte, eine neue Leichtigkeit. Das Publikum darf beides sein, Mitwisser und Mitspieler; Beobachter und Voyeur. Sich auch wohlfülen und im Text-Raum umherwandern, dennoch bleibt es auch Akteuer und ist mitgehangen.

Senecas „Thyestes“ (das einzige, der vielen Dramen, die seit dem 5. Jh. V. Chr. geschrieben worden sind, das erhalten ist) wird immer wieder aufgeführt. Zuletzt 2018 im Festival von Avignon, ein Jahr davor im Rahmen des Welt-Theater-Festivals in Carnuntum. Beide Inszenierung wurde mit großem Aufwand an Bühne und Kostümen betrieben. Der Aufwand, den das Team von theatercombinat betreibt, ist einer, der hinter den Kulissen passiert. Abgesehen von der perfekten und präzisen Einstudierung des Textes unAtreus (Mun Wai Lee) hat gemordet, Thyestes gegessen. Wir haben zugeschaut. d dessen Übersetzung in die Bewegungen der Körper, trägt auch die Ton- und Lichtsteuerung dazu bei, aus der Aufführung ein tiefgreifendes Erlebnis zu machen. Claudia Bosse hat es nicht notwendig Nägel unter die Haut zu treiben oder andere Zirkuskunststücke von den Darsteller*innen zu verlangen, sie verlässt sich auf die Ausdruckskraft der Körper und ihrer Stimmen.
Wenn die Schauspielerin Alexandra Sommerfeld als Botin minutiös von der Schlachtung der Söhne des Atreus durch Thyestes berichtet, färbt sich ihre Haut allmählich rot, das Fleisch, die Muskeln und Knochen beginnen zu zittern, als könnte sie als „Bote“ selbst kaum glauben, was geschehen ist und sich ekeln vor dem, was es zu erzählen gibt. Den Göttern graust es, sie halten die Sonne an, der Tag wird zur Nacht, kein Stern, kein Mond scheint mehr, auch keine Kugellampe gibt noch Licht. Götterdämmerung! Am Ende verschlingt sich die Welt selbst. Rotraud Kern, Alexandra Sommerfeld, Lilly Prohaska: Furie, Bote, Tantanlos. Alle zugleic sind der Chor.

In diesem fünfköpfigen Team (samt dem jungen Sprecher, Juri Zanger und dem Jugendchor, eine person herzuvheben ist nicht nur ungerecht sondern ach unmöglich. Deshal sollen auch die anderen Stimmkörper (Darsteller*innen) genannt und mit Lob überschüttet werden: Die Tänzerin Rotraud Kern, eine weiß bemalte Furie; die Schauspielerin Lilly Prohaska, widerlich gelb als Tantalos; der Tänzer Mun Wai Lee, der sich als Atreus selbst mit dem violetten Purpur der Herrscherwürde bemalt und schließlich der Performer Nic Lloyd, als Thyestes abstoßend fressend, rülpsend und stotternd. Regisseurin, Gründerin des Kollektwics theatercombinat Claudia Bosse. © Guenther Auer.Wie Sommerfeld hat auch Lloyd in mehreren Produktion von theatercombinat mitgewirkt.

Wenn die Lichter doch wieder angegangen sind, gibt es reichlich Applaus und danach gute Gespräche an der Bar. Ein Gesamturteil könnte / kann ich in einem Wort (drei Wörtern) zusammenfassen: Ein großer Wurf. Geeignet für jegliches Festival, publikumskompatibel und fesselnd, nicht nur weil die Darsteller*innen nahezu hautnah agieren und den Zuschauer*innen in die Augen schauen. Mir scheint, ich werde noch zu einer Anhängerin von Claudia Bosse.

Claudia Bosse / theatercombinat: „Thyestes Brüder! Kapital“, auf der Basis von Senecas Tragödie „Thyestes – anatomie einer Rache“ in der Übersetzung von Durs Grünbein, mit Texten von Karl Marx und Heiner Müller. Konzept, Raum, Regie: Claudia Bosse; Sound: Günther Auer; Technische Leitung: Marco Tölzer; Produktionsleitung: Alexander Matthias Kosnopfl. Mit: Rotraud Kern, Mun Wai Lee, Nic Lloyd, Lilly Prohaska, Alexandra Sommerfeld, Juri Zanger und dem Jugendchor geleitet von Constance Cauers. Uraufführung: 11.September 2019, FFT Düsseldorf. Wien-Premiere: 4. Oktober 2019. Gesehen am 9.September 2019. Kasino am Kempelenpark, 1100 Wien.
Fotos, falls nicht anders angegeben, von Eva Würdinger.
Weitere Vorstellungen: 11., 12., 15., 15., 17. Oktober 2019.
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