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Nurejew Gala 2019: Ein bunter Abend für Paare

"Trois Gnossiennes" (Esina, Lazik)

Noch nie an der Wiener Staatsoper gezeigte Pas de deux waren die Attraktion der diesjährigen Nurejew-Gala. Sämtliche Solistinnen und Solisten des Wiener Staatsballetts durften sich in den zwölf Duos präsentieren, das Ensemble hatte, nach einem anstrengenden Jahr, Schonzeit. Inmitten der bejubelten Gäste aus St. Petersburg und Amsterdam, Anastasia Nuikina, Kimin Kim und Young Gyu Choi von Dutch National Ballet, zeigte Ballettchef Manuel Legris mit der Ersten Solotänzerin Nina Poláková, wie man auch ohne Showeffekte, Pirouettenwirbel und Hochsprungakrobatik ein Gala-Publikum hinreißen kann.

Eröffnet wurde der Abend im Walzertakt. Natascha Mair und Davide Dato ernten den ersten Beifallssturm mit dem „Delirienwalzer“ von Roland Petit / Josef Strauss. Natascha Mair und Davide Dato eröffnen mit dem Delirienwalzer von Josef Strauss den Reigen.Später ist auch ein Ausschnitt aus Petits Erfolgsballett „Die Fledermaus“ zu sehen: Olga Esina, die Bella der Premiere vor zehn Jahren, tanzt auf Spitze ihrem Ehemann Johann (Vladimir Shishov) buchstäblich auf der Nase herum. Pas de deux erzählen immer von der Liebe, der falschen und der feurigen, der eifersüchtigen und der um die Macht kämpfenden. Ballettchef Manuel Legris bescherte dem vier Stunden ausharrenden Publikum so einen nicht nur lehrreichen, sondern auch erotisch immer wieder aufgeheizten Abend.

Als Konkurrenten kämpfen Arne Vandervelde und Dumitru Taran im „Jokey-Tanz“ der dänischen Choreografie-Legende Auguste Bournonville um den Sieg im Sattel und vermutlich auch im Schlafzimmer, doch das sehen wir nicht. Die Reiter trennen sich mit einem Lächeln. Liudmila Konovalova brilliert im „Esmeralda Pas de deux“ als schöne Zigeunerin, La Konovalova mit Young Gyu Choi, Solotänzer im Dutch National Ballet, Amsterdamihr Partner ist (nicht der bucklige Glöckner Quasimodo, sondern nach der Erzählung im dreiaktigen Ballett von Marius Petipa, dem der frei bearbeite Grand Pas de deux entnommen ist, der Dichter Pierre Gringoire, der wie sämtliche anderen Männer in Esmeralda verliebt ist) Young Gyu Choi. Der elegante, dynamische Tänzer, in Südkorea geboren und seit 2011 Mitglied des Dutch National Ballet, ist zum ersten Mal Gast des Wiener Staatsballetts.

Kimin Kim, beeindruckend artistisch, hat auch das Publikum in Wien längst erobert. Wie man ein Publikum in Raserei versetzt, weiß Kimin Kim, Principal Dancer am Mariinski-Theater, nur allzu gut. Bereits als Conrad in Manuel Legris „Le Corsaire“ hat er sein Showtalent demonstriert und auch im „Talisman Pas de deux“ zeigt er seine Zirkuskunststücke. Ein Tänzer, der jeden Galaabend anregend bunt dekoriert. Dagegen kann die junge Mariinski-Tänzerin Anastasia Nuikina, geboren am Westufer der Wolga in Samara, nur ihre schöne Linie und den bestrickenden Port de bras halten. Das Publikum weiß das sehr wohl zu schätzen und bedankt sich entsprechend für Nuikinas Debüt mit dem Staatsballett. Galaabende brauchen Gäste als Aufputz, zur Anregung der heimischen Tänzer*innen, zur Freude des Publikums, das so oder so, wie es schon Jesus von Nazareth gewusst hat, lieber den Propheten aus anderen Ländern zujubelt, als die sehenswerten Qualitäten der eigenen zu schätzen. Junge Liebe ist kompliziert: Nina Tonoli, Jakob Feyferlik in "Luminous" von András LukácsNicht nur, was technische Vollkommenheit, auch, was das Spiel, den Ausdruck der Gefühle, das Sprechen ohne Wörter betrifft, können die Tänzer*innen des Wiener Staatsballett mit jedem auswärtigen Propheten mithalten. Dafür werden sie auch das gesamte Jahr über belohnt, zum festlichen Saisonende dürfen die Gäste bejubelt werden. Auch, damit sie wiederkommen.

Die Pas de deux plus zwei Solos, fast alle ganz neu für Wien, boten ein durchaus abwechslungsreiches Programm, in dem Beziehungen in allen Facetten abgehandelt worden sind.

„Luminous“ ist die neueste Kreation des Halbsolisten Andras Lukács, einfallsreich und schwierig zur Filmmusik („Perfect Sense“, ein SF-Thriller) von Max Richter getanzt. Aufregend, mit Hebungen und komplizierter Beinarbeit der Tänzerin, erzählen Nina Tonoli und Jakob Feyferlik von junger Liebe, die noch keine Ahnung von der Realität hat. Falscher Ausschnitt: Bald ist Sie obenauf. Alice Firenze und Eno Peçi im feurigen Pas de deux aus Mauro Bigonzottis Ballett "Cantata". Mitten drin im Alltag sind dann Alice Firenze und Eno Peçi in einem Ausschnitt aus „Cantata“ von Mario Bigonzetti, kreiert 1997 für das Ballet Gulbenkian, Lissabon. Die Musik, bei der Uraufführung des abendfüllenden Balletts live gespielt, stammt von der süditalienischen Gruppe „Assurd“, die auch für die Uraufführung von Bigonzettis Ballett „Alice“, geschaffen für „Gauthier Dance“ in Stuttgart, live aufgespielt und gesungen hat. In „Cantata“ denkt Bigonzetti über unterschiedliche Formen der Beziehung der Geschlechter nach. Alice Firenze und Eno Peçi sind im hitzigen Pas de deux weniger zärtliches Schmusepaar als mit der Frage beschäftig: Wer liebt mehr?. Mann und Frau, wer darf anschaffen, wer muss folgen? Wollen die Männer die Frauen, die Frauen die Männer wirklich verstehen? Was soll das sein, Liebe? Viele Fragen und ein großartiger, sinnlicher Pas de deux, bei dem Frau und Mann die Muskeln spielen lassen. Die  Prinzessin darf den Geliebten nicht umarmen: Nina Poláková in "Ochiba" von Patrick de Bana.

Doch kann eine Beziehung auch mathematische Ordnung und distanzierte Kälte ausstrahlen und dennoch pralle Sinnlichkeit vermitteln. Olga Esina und Roman Lazik zeigen das in „Trois Gnosiennes“ (Choreografie Hans van Manen zur gleichnamigen Klaviermusik von Erik Satie) aus dem aktuellen Repertoire mit ausdrucksstarker Neoklassik. Noch tiefer unter dem Eis brennt das Feuer in Patrick de Banas jüngster Kreation, „Ochiba“. Mit Olga Smirnova hat Manuel Legris den Pas de deux beim Tokyo-Gastspiel im heurigen März zum ersten Mal getanzt, in Wien hat er sich Erste Solotänzerin Nina Poláková als ferne Geliebte gewählt. „Ochiba“ (könnte der Name einer japanischen Prinzessin sein) ist ein Pas de deux, der gar keiner ist, weil die beiden Liebenden – sie in weiße Schleier gehüllt, möglicherweise ein Brautkleid, er im korrekten braunen Anzug, vor einem Koffer wartend – einander weder ansehen noch berühren. Auch in kleinen Bewegungen (er macht nur wenige Schritte, bewegt vor allem die Arme, stoppt sich selbst in seinem Drang zur Geliebten; sie liegt im Lichtkreis, hebt sehnsuchtsvoll den Oberkörper) ist die Beziehung und vor allem das Begehren zu spüren. Für mich wird diese Geschichte zum Thriller: Manuel Legris sehnt sich nach der Geliebten: "Ochiba" von Patrick de Bana Werden sich die beiden endlich in die Arme schließen? Auf der Bühne nicht. Die Spannung wird gehalten, oder ist es kein Märchen? In der Wirklichkeit sind die Hormone, respektive Gefühle nicht immer die Sieger. Die Musik von Philip Glass (Shino Takizawa am Piano für einen Ausschnitt aus dem „Tyrol Concerto“), beschleunigt das Flattern des Magens.

Auch auf Rudolf Nurejew ist nicht vergessen worden, schließlich ist die Gala ihm gewidmet: Mit Prinz Florimund aus „Dornröschen“ in Nurejews Fassung qualifiziert sich der junge Corps Tänzer Navrin Turnbull aus Australien zum Halbsolisten; im Ausschnitt aus dem III. Akt von „Schwanensee“ präsentierten sich Kiyoka Hashimoto (Odile) und Leonardo Basilio (Prinz Siegfried) schwungvoll und standfest, Als Prinz Florimund in Nurejews "Dornröschen" ertanzt sich Navrin Turnbull das Avancement zum Halbsolisten. und Ioanna Avraam zeigte mit dem Pas de deux nach dem „One Night Stand“ von „Romeo und Julia“, dass so ein Liebesduett nicht so klassisch keusch sein muss wie bei John Cranko. Die Musik dazu lieferte the one and only Sergej Prokofjew.

Unnötig verlängert haben den durchaus abwechslungsreichen Abend die Ausschnitte aus den Repertoire-Balletten „Coppélia“ (Natascha Mair und Jakob Feyferlik) und „Sylvia" (in der Premierenbesetzung, doch mit Géraud Wielick als Liebesgott, der mitten im römischen Göttergewurl griechisch Eros genannt wird). Das die gesamte Saison über mit vollem Einsatz tanzende Corps de Ballet hat in diesen Teilen auch Gelegenheit erhalten, seine Klasse zu zeigen und verdienten Applaus zu ernten. Den hat auch Dirigent Kevin Rhodes, der nicht nur die Musik, sondern auch das Ballett liebt und das Staatsopernorchester mit Verve und bester Laune geleitet hat, bekommen. Dass im von Josef  Strauss für den Ärzteball geschaffenen „Delirienwalzer“ das Blech so laut sein musste, hat nach der schwermütigen Einleitung jedoch den schmeichelnden Drehungen viel an Charme genommen. Ketevan Papava, aufregend verführisch im "Fanny Elßlers Chachucha".Sei’s drum, der Abend war wie immer zu lang, doch erfolgreich. Der Schluss-Applaus des begeisterten Publikums hat das lautstark bestätigt. Dass in den Reihen tatsächlich Ballettfreundinnen und -kennerinnen gesessen sind, hat die eingehaltene Stille im Ausschnitt aus William Forsythes „Artifact Suite“ (Solistenpaare: Madison Young, danach zur Solotänzerin ernannt) mit James Stephens / Natascha Mair mit Davide Dato) gezeigt. „Artifact Suite“ ist ein Stück aus dem aktuellen Repertoire, das ich nicht oft genug sehen kann, diese mathematische Exaktheit, das Täuschen und Tarnen, die präzisen Bewegungen des Ensembles (Oxana Kiyanenko hat, wie schon in der Premiere, die Vortänzerin gemacht) versetzen mich immer von Neuem in die schwindelnde Lust der Genauigkeit.

Nurejew-Gala 2019, mit dem Wiener Staatsballett, Manuel Legris; Anastasia Nuikina, Young Gyu Choi, Kimin Kim als Gäste. 28. Juni 2019, Staatsoper.
Sämtliche Fotos hat Ballettfotograf Ashley Taylor geliefert. © Wiener Staatsballett / Ashley Taylor