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Vom Staatsballett zum Stadtballett, eine Philippika

"Die Jahreszeiten", Musik Joseph Haydn, Choreografie Martin Schläpfer

In Linz müsste man sein! Ernsthaft! Dort kann nämlich der Orchestergraben angehoben werden. Raffiniert. Das gesamte Orchester fährt mit dem Dirigenten hoch und ist auf gleicher Ebene mit dem Bühnengeschehen. Dann müssten Chor, Solisten und Solistin nicht aus dem Graben hinaufsingen und es wäre wohl auch etwas weniger schweißtreibend da unten. Bei der Aufführung von Joseph Haydns Oratorium „Die vier Jahreszeiten“ habe ich diesen Effekt vermisst. Und auch noch vieles andere.

Hyo-Jung Kang und Marcos Menha; Davide Dato ist nur halb zu sehen, und ist doch … , nein nicht rund aber schön. Großes Orchester, gemischter Chor, Sopranistin, Tenor und Bass – ein Tanzabend? Ja, ein Tanzabend, Augen auf die Bühne gerichtet! Haydn, seine Musik, der Arnold Schoenberg Chor, das Staatsopernorchester mit dem Dirigenten Adam Fischer sind nur da, um dem Choreografen zu dienen, den Tänzer:innen / Akrobat:innen Halt zu geben. Dass da unten im Graben, für einen Großteil des Publikums nahezu unsichtbar, Großartiges geleistet wird, sei lautstark hervorgehoben. Slávka Zámečniková (Sopran), Josh Lovell (Tenor) und Martin Häßler (Bass) bringen mit dem Orchester die Musik zum Klingen, bieten einen schönen Abend.
Haydns Oratorium geht es weniger gut. Wie schon das „Deutsche Requiem“ von Johannes Brahms, die 15. Symphonie von Dimitri Schostakowitsch oder die 4. Symphonie von Gustav Mahler, wird auch das Chorwerk benutzt, dient vielleicht Terpsichore als Aushängeschild oder als Versteck. Choreograf Schläpfer erweist sich als Marketingfachmann, hat längst sein Alleinstellungsmerkmal (kurz USP) gefunden: Nur keine Tanzmusik für das Wiener Staatsballett. Also große Werke aus dem Konzertsaal. Auch recht. Doch muss es unbedingt ein Chorwerk sein, das mit Musik und Gesang und Text die gesamte Aufmerksamkeit des Auditoriums und auch des Dirigenten absorbiert? Davide Dato, diesmal ganz zu sehen, mit Elena Bottaro. Fast ein Ballett!Das Oratorium, uraufgeführt 1801, ist zum Ballettabend 2022 aufgemotzt. Es muss erfreuen, kommt es doch dem allgemeinen Bedürfnis entgegen, sich auf dem Gewohnten auszuruhen. So ein mehrfaches Déjà-vu beruhigt und entspannt. Die Spitzenschuhe der Tänzerinnen hacken in den Boden, Tänzer rutschen bäuchlings über die Bühne, zwei Männer versuchen einer Frau die Beine auszureißen, schupfen sie hin und her, zerren sie über den Boden. Hahnenkampf! Zum ersten Mal sehe ich einen Mord, der Würger entsorgt die Leiche. Heureka! Premiere. Zumindest für mich. Doch gleich geht es weiter wie gewohnt: Reinlaufen, Rauslaufen, Gänsemarsch, Purzelbaum, Kopfstand, Strampeln wie ein Säugling, Brücke. Yuko Kato sitzt auf dem Boden, übt sich im wechselnden Mienenspiel. Déjà-vu zum Quadrat. Vanessza Csonka, Helen Clare Kinney, Daniel Vizcayo und Yuko Kato. Die Kostüme zeigen es: Es ist Sommer.Alle kommen an die Reihe, auch die Solistinnen und Solisten sind eingesetzt, tauchen auf und wieder unter, verschwinden in der Menge. Ein trendiges Konzept: Alle sind gleich. Falsch! Ein Missverständnis. Alle verdienen die gleiche Behandlung, brauchen die gleiche Aufmerksamkeit und Anleitung, um Hervorragendes zu leisten. Alle sind eine Compagnie!
Schläpfer breitet seinen Fleckerlteppich aus, reiht Szene an Szene, choreografiert nicht die Musik, sondern die Noten. Die Fleckerl dieses Teppichs sind austauschbar, bei jedem Pas de deux, bei jedem Solo und dem dauernden Auf und Ab bleibt die Frage:
„Warum? Warum jetzt? Warum das?“ Es gibt keine Antwort.
Tänzer und Tänzerinnen zeigen Energie, anstrengend ist der dreistündige Abend sowieso für alle, die Besucher:Innen diesseits und die Arbeitenden jenseits des Grabens und auch alle innerhalb desselben.Das Trio Kang, Menha, Dato: zwei gegen eine.
Der Choreograf des Wiener Staatsballetts, quasi der Staatschoreograf, ist fleißig und präsent, doch wo ist der Direktor dieser, von seinem Vorgänger Manuel Legris streng und fürsorglich auf internationales Niveau gehobenen Compagnie? Sie ist nicht mehr sichtbar, die Unterschiede zwischen den Tänzer:innen, die seit vielen Jahren das Wiener Ensemble ausmachen und jenen, die ab 2020/21 dazugekommen sind, sind noch immer eklatant. Ein geformtes Ensemble sieht anders aus.
Was tut der Direktor, damit wieder eine Compagnie entsteht, die als ein Körper funktioniert? Das kostet Einfühlung, Respekt und Fürsorge. Wenn die Compagnie nur dazu dient, den Ruhm eines Choreografen zu festigen, wird sie zerfallen. Die ersten Risse sind als Folgen der Erosion schon dem Pubikum sichtbar.
Das Staatsballett ist auf dem Weg zum Stadtballett. Alexey Popov, Claudine Schoch: Der Pose mangelt es an Eleganz, doch sie benötigt Kraft.
Das Rumoren im Ballettsaal dringt allmählich nach außen, auch im nächsten Herbst werden Tänzerinnen und Tänzer die Compagnie verlassen. Sie gehen dorthin, wo sie geschätzt werden.
Wenn ich die Compagnie mit einem Haus vergleichen darf, dann meine ich, vor der Tür ist jetzt genug gekehrt worden, von der Grafik der Website bis zum Ballettclub ist nahezu alles verworfen, eliminiert und erneuert oder umgebaut worden. Die Außenansicht ist jetzt hui, doch wenn nicht bald einiges im Haus drinnen passiert, werden zwölf gute Feen nicht helfen können, das zerbröckelnde Gemäuer wieder in das strahlende Palais zu verwandeln, das es vor kurzem noch war.
Nur im Kabarett reimt sich ruiniert auf ungeniert.

Vom Staatsballett zum Stadtballett, ein Philippika anlässlich der Uraufführung des Tanzstücks „Die Jahreszeiten“. Musik: „Die Jahreszeiten“, Oratorium von Joseph Haydn, Text Gottfried van Swieten. Choreografie: Martin Schläpfer. Bühne & Kostüme: Mylla Ek; Licht. Thomas Diek. Musikalische Leitung: Adam Fischer, Choreinstudierung Erwin Ortner;
Slávka Zámečniková, Sopran; Josh Lovel, Tenor; Martin Häßler, Bass. Arnold Schoenberg Chor, Orchester der Wiener Staatsoper; Hammerklavier Stephen Hopkins; Violoncello: Tamás Varga. Uraufführung: 30.4.2022. Wiener Staatsballett in der Staatsoper.
Gesehen: Generalrobe am 29. April; Streaming der Vorstellung am 30. April 2022. Ab 5. Mai 11 weitere Vorstellungen bis 16. Juni 2022.
Fotos: Ashley Taylor. © Wiener Staatsballett / Ashley Taylor