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Der Pirat und die Bienenzüchterin

Autor Chris Whitaker, weiß, was Leserinnen lieben.

Wären die Themen nicht so problematisch, könnte man Chris Whitakers dickleibige Romane als pure Unterhaltungsliteratur bezeichnen. Doch er stopft zu viel hinein, konstruiert eine Szene nach der anderen und macht deutlich, dass er sein Publikum ergreifen und erschüttern möchte. In den Farben des Dunkels, seinem jüngsten Roman, verfolgt er 30 Jahre lang den Lebensweg zweier Teenager. So einfach die Sprache ist, so sehr zieht die mit überraschenden Wendungen nicht geizende Geschichte von Patch und Saint in Bann.

 

Man beißt sich durch 600 Seiten, verliert mitunter den Faden und lässt sich von jedem Cliffhanger überrumpeln und liest weiter. Wer ist der / die Böse, wer sind die Guten? Das sind die Fragen, der bis zum letzten Kapitel offenbleiben. Schlau gemacht!
Whitaker, auf allen möglichen Bestenlisten, deren Zustandekommen und Kriterien kaum bekannt ist, klaubt alle Themen auf, die am Literaturrand liegen: Frauenrechte und Homosexualität, Liebe, unverbrüchliche Treue und Solidarität, tödliche Eifersucht und Hass, Vernachlässigung und Missbrauch samt einem Killer, der es auf junge Mädchen abgesehen hat.  Und natürlich zieht sich durch die ganze manchmal recht verwirrende und wenig plausible Geschichte auch der große Graben zwischen Arm und Reich. Der Autor sorgt jedoch dafür, dass die beiden immer gute Figur machen und sympathisch bleiben. Gut und Böse liegen eben eng nebeneinander. Alle Figuren, auch die Oma und der Detektiv, Freund und Mentor von Saint, sind mehrdimensional gezeichnet, sodass die Leserin nie genau weiß, woran sie ist. Ich will es nicht leugnen, Chris Whitaker, weiß genau, wie man einen Spannungsroman bastelt. Er hat ein erfolgreiches Rezept, das er Kapitel für Kapitel anwendet
Die Personen findet man im Anhang des Ratgebers Wie schreibe ich einen guten Roman? Der wilde, aber herzensgute Patch, der richtig Joseph heißt, aber sich für einen Piraten hält, weil er nur auf einem Auge sieht. Den kaputten Augapfel bedeckt er mit einer Klappe. Er wächst ohne Vater, mit seiner überforderten Mutter auf. In unverbrüchlicher Treue und unerwiderter Liebe steht ihm das Mädchen Saint zu Seite. Sie wächst bei der patenten Großmutter auf, die Eltern kamen bei einem Unfall ums Leben. Das Duo wird von einem zauberhaften Mädchen namens Grace zum Trio vervollständigt. Doch ob Grace überhaupt existiert oder nur ein Hirngespinst von Patch ist, weiß man nicht. Im Hintergrund leidet eine unübersehbare Menge entführter, vermutlich getöteter Kinder, vor allem Teenagerinnen. Der Mörder wird gesucht, doch Whitaker benützt die zahllosen Verbrechen nur als Vehikel, um den Roman voranzutreiben.
Der Autor eröffnet das grausame und auch abenteuerliche Spiel mit einem Donnerschlag unter Vorwegnahme der Chronologie. Um die Neugier zu wecken, geben die ersten Absätze den Blick in eine Zukunft frei, die dann nicht eintritt:

Patch stand au dem Flachdach über der Küche […] Als er später an jenem Vormittag sterbend im Wald lag, bewahrte er den Morgen in seinem Herzen, bis die Farben verliefen, denn er wusste, dass er so schön gar nicht gewesen sein konnte. Nichts in seinem Leben war je so schön“

Wir wissen, Patch stirbt nicht, er ist Mitte 40, wenn der Roman mit mehreren Paukenschlägen endet. Doch er verschwindet für ziemlich lange. Beim Waldspaziergang an jenem Vormittag sieht er das Böse. Schulkameradin Misty wird von einem Mann bedroht, der 13-jährige Pirat zögert nicht, greift den Fremden an, Misty läuft weg, Patch verschwindet. Bald wissen die Leserinnen, dass er in einem finsteren Loch gefangen gehalten wird und hier tröstet ihn die schöne und kluge Grace. Saint, die ihn schon lange liebt und ihn immer lieben wird, lässt der Polizei keine Ruhe. Patch wird gerettet (und ein paar andere verschwundene Mädchen auch, doch, wie gesagt, das Böse und seine Opfer sind nur Treibstoff, die Untaten eines Unauffindbaren werden nicht problematisiert) und will seine Grace finden, doch niemand außer Saint glaubt an die Existenz der jungen Frau. Grace ist für die Polizei ein Fiebertraum. Patch widmet sein Leben der Suche nach ihr, Saint ebenso, sie gibt ihre kindliche Leidenschaft für die Bienen auf, wird Polizistin und macht Karriere beim FBI, um Grace zu finden.
Das Leben von Patch ist reich an Abenteuern und Herausforderungen. Er kennt keine Moral, hält sich an keine Regel, will nur überleben und seine große Liebe, Grace, finden. So schließt sich eine herzzerreißende Szene an die andere, bis mir im Liegestuhl die Augen zufallen.
Für dieses Hin und Her zwischen Lob und Tadel gibt es eine einfache Erklärung: Kognitive Dissonanz. Ich weiß genau, dass dieser dickleibige Roman trivial ist, der Spannung und Unterhaltung dient, über die Welt, wie sie ist, sagt er gar nichts aus. Aber ich lese weiter und weiter, bis zum beruhigenden Ende, wenn die Guten belohnt und die Bösen bestraft werden. Diese von mir verspürte Dissonanz könnte der Leserin helfen, sich klar zu werden, ob sie die Muße und die Zeit aufbringen will, um in die Geschichte von Saint und Patch, die die Liebe trennt, einzutauchen.
583 Seiten! Das gelingt nicht ohne Dehnungsstreifen, Leerstellen, Wiederholungen und Langeweile. Doch der Autor kennt alle Tricks, um die Leserin bei der Stange und den Spannungsbogen hochzuhalten. Die Vorwegnahme einer möglichen Zukunft und die aus Seifenopern und TV-Serien bekannten Cliffhanger sind im Dauereinsatz. Doch ich habe durchgehalten, schließlich wollte ich wissen, wie sich der Autor von seinen Figuren verabschiedet. Die Überraschungen in den letzten aufregenden Kapiteln wollte ich mir nicht entgehen lassen. Dass Whitaker, weiß, wie man eine Geschichte aufbaut und beendet, zeigt er mit dem Schluss der zu Papier gebrachten Seifenoper. Patch schenkt Saint sein letztes Bild. 

 Sie kannte das Motiv. […] Saint betrachtete die beiden Gestalten, die dort unter dem Sternenhimmel lagen, die Köpfe nebeneinander und die Füße wie die Zeiger eines Kompasses nach Norden und Süden ausgerichet.
Der dreizehnjährige Pirat.
Und die Bienenzüchterin, die ihm da Leben gerettet hatte.

Chris Whitaker: In den Farben des Dunkels, aus dem Englischen von Conny Lösch, 592 Seiten, 2. Auflage, Piper, 2024. € 24.70