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Jumelles – Solo für Zwei

Gies öffnet die Schleppe am Kleid Jurens.

Als kämen sie direkt vom Ball in Versailles, betreten zwei barocke Gestalten die Bühne. Blanke Ironie oder eine Erinnerung an die Ursprünge der französischen Tanzkunst im 17. Jahrhundert. Anne Juren und Frédéric Gies blättern jedoch nicht im Geschichtsbuch, sondern zeigen aktuellen Tanz, ihren Tanz. Über Kreuz. Anne tanzt, was Frédéric choreografiert hat und Frédéric folgt Annes Choreografie. Jumelles ist der Titel der beiden Solos, die zum Ende von vier prallvollen ImPulsTanz-Wochen im Schauspielhaus zu sehen waren.

Anne Juren tanzt eine Coreografie ihres langjährigen Freundes Und Kollegen Frédéric Gies. Der Titel der Doppelchoreografie ist folgerichtig doppeldeutig: Das französische Wort Jumelles meint nicht nur die biologischen weiblichen Zwillinge, sondern auch binokulare Geräte, Ferngläser / Operngucker, durch die man mit beiden Augen sieht. Im Tanz von Anne sieht man auch Frédéric und wenn Frédéric über die Bühne fegt, ist Anne dabei. Zweck und Sinn dieser Vorstellung ist eine Hommage an die langjährige Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitige Bewunderung von Anne Juren und Frédéric Gies. Beide sind in Frankreich geboren, haben Tanz und vieles andere studiert, sind gemeinsam aufgetreten, haben einander immer wieder getroffen, auch wenn sie an unterschiedlichen Orten leben – Anne in Wien, Frédéric zurzeit in Malmö. Sie fühlen sich als Zwillinge im Geiste, auch wenn ihre Arbeiten formal unterschiedlich sind. Frédéric Gies interpretierte die Choreografie von Anne Juren.
Im Grunde sind es zwei Solos, die gezeigt werden. Juren und Gies treten zwar gemeinsam auf, Anne in Himmelblau wirkt zart und klein neben Frédéric, der in royales Gold gehüllt ist, doch getanzt wird alleine.
Fürsorglich öffnet Frédéric an die lange Schleppe am Reifrock. Ebenso fürsorglich werden die beiden einander beim neuerlichen Überstülpen der Hüllen am Ende der Vorstellung behilflich sein. Dazwischen gibt es kaum Gemeinsamkeit, denn während Anne tanzt, darf Frédéric schlafend an der Rampe liegen und umgekehrt. Gleich ist allerdings die Entblätterung. Tanzend werden die barocken Hüllen allmählich abgelegt, bis sie nur noch die seidene, spitzenbesetzte weiße Kniehose tragen. Anne behält auch das Mieder an, Frédéric braucht das nicht. Doch eine männliche Figur in spitzenbesetzter Unterhose wirkt eher lächerlich als beeindruckend. Frédéric Gies in Pose an der Rampe.
Gies ist eine/ein in großartige/r Tänzer*in, die /der den Raum in Besitz nimmt. Elegante, weiche Armbewegungen und Pliés zeigen ihre / seine Ausbildung im klassischen Spitzentanz, schaltet sich der Techno-Sound ein, werden die Bewegungen schroffer, eckiger und Gies präsentiert sich in ganzer Körperlichkeit. Anne Juren ist in ihrem Solo ganz dem Tanz hingegeben, fließende Bewegungen mit Den Armen, ein Trippeln der Beine, fast selbstvergessen sieht die Tänzerin aus, präsentiert Tanzkunst und nicht sich selbst.  So intensiv und formschön ist der Auftritt, dass sich danach Ermüdungserscheinungen im Publikum bemerkbar machen, die Konzentration lässt nach. Gies aber nimmt auch die Zeit in Besitz. Das verhaltene und fließende Solo von Anne Juren tritt in den Hintergrund, Gies beansprucht nicht nur den doppelten Platz für seine Biografie im Programmheft, sie / er präsentiert sich auch auf der Bühne als Deszendent / in des Sonnenkönigs. Wunderschon! Die Täzerin Anne Juren hat vor kurzem an der Stockholmer Universität der Künste mit ihrer Arbeit „Studies on Fantasmical Anatomies“ promoviert.
Auch wenn die beiden Solos nichts anderes sein wollen als reiner Tanz und gegenseitige Freundschaftsbekundung, sind zwei Körper auf der Bühne, ein weiblicher und ein männlicher und ich erlaube mir, ihnen Rollen zuzuordnen. Ich sehe eine zierliche Prinzessin, die in ihrem wasserblauen Reifrock fast hinter dem Begleiter verschwindet. AnneJuren und Frédéric Gies im Porträt. Erst tanzend wird sie zur Person, fühlt sich frei und selbstbewusst. Angetrieben von den Techno-Klängen wird sie am Ende zu einer Megäre, die mit wehendem Haar die Welt erobert. Der / die Tänzer*in, im königlichen Rock und ebenso königlicher Seidenhose, lässt keinen Platz mehr für das weibliche Solo vor ihr / ihm. Sporadisch mischt sich hämmernder, dröhnender Techno-Sound in die Solos, fordert die Tanzenden auf, sich im Takt zu bewegen, Sprünge und Drehungen zu absolvieren. Der Klangkörper bleibt Fremdkörper, vereint sich nicht mit den Tanzkörpern. Auch kann ich an den beiden Solos nichts Zwillinghaftes erkennen. Die angekündigte „binokulare Sichtweise“ ist schon gar nicht möglich, gemeinsam, als Duo, sind Juren / Gies lediglich als Auf- und Abtretende, kommend und gehend zu sehen.

Anne Juren & Frédéric Gies: Jumelles, ImPulsTanz im Schuspielhaus, 8. und 10. August 2024
Choreografie und Performance: Anne Juren und Frédéric Gies
Sound und Musik: Paul Kotal; Musik: Fiedel; Licht: Thomas Zamolo; Kostüme: Grzegorz Matlag
Produktionsleitung: Ambre Andriamanana und Magdalena Stolhofer
Produktion: Dance is ancient (SE) und Wiener Tanz- und Kunstbewegung (AT)
Fotos: © Thomas Zamolo