Ali Smith: „Die ganze Geschichte“, Erzählungen
Von Ali Smith kann ich nicht genug bekommen. Ihre Geschichten sind aufregend und verwirrend, absurd und poetisch und oft mit einer kräftigen Prise Humor gewürzt. Zwölf davon, von der Autorin für die Originalausgabe 2003 selbst ausgewählt, sind als Taschenbuch erschienen. Wenn der Band ins Wasser fällt oder mit Sand paniert wird, macht das nichts. Nur liegen lassen sollte man diese ohne großen Aufwand einher kommenden kleinen Kostbarkeiten nicht. Da könnte man sie nicht mehr zum Wiederlesen hervorholen.
Dass ihre Geschichten keinen Anfang und kein Ende kennen und die Erzählerin sich oft verheddert und verirrt, dass ein Mann auch eine Frau sein kann und der Tod stets präsent ist, macht diese Geschichten einzigartig. Ali Smith bewegt sich in ihrer höchst eigenen fiktionalen Welt, kann sich in einen Baum verlieben oder eine schottische Dudelsackkapelle die Wohnung okkupieren lassen. Sie erzählt von Liebe und Eifersucht und vom Leben, das immer und jederzeit vom Tod bedroht ist.
Smith negiert sämtliche literarischen Genres und Grenzen, sinniert, fantasiert, schwindelt und macht schwindlig, täuscht und tarnt und bleibt doch immer ganz sie selbst. In diese ganz andere Welt, in der der Alltag ein Verwirrspiel und die hektische, schmutzige Großstadt voller Ironie als Paradies geschildert wird, weil sie eben ist, wie ist, kann man eintauchen wie in das grün schimmernde Wasser eines Swimmingpools im Schrebergarten. Doch Achtung, nur so drüber hinweglesen, funktioniert gar nicht, Ali Smithss Geschichten stecken voller Fallen, wenn man nicht aufpasst, tappt man hinein und kann sich nicht mehr befreien.
Ali Smiths Bücher, ob Romane oder Erzählungen, sind zugleich melancholisch und voller Hoffnung, erzählen von den Abgründen des Lebens und sind zugleich voll Lebensfreude. Wer eine stringente Handlung erwartet, wird enttäuscht sein, vor allem die Geschichten gleichen eher Tagträumen und sind unter dem Motto: „so könnte es gewesen sein, oder auch ganz anders“ geschrieben. Wunderbar, rätselhaft und stilvoll, zweideutig, kreativ und gefühlvoll. Nicht von ungefähr sind genau 12 Geschichten in dem Band vereint: Sie wandern vom kalten Jänner in den Frühling, vom Sommer in den schneereichen Winter. Da ist die Liebe zerbrochen, die Haustür verschlossen. Doch es gibt einen Ausweg, wahre Liebe findet immer einen Ausweg.
Ali Smith: „Die ganze Geschichte und andere Geschichten“, Originalausgabe: "The Whole Story and other stories", 2003; deutsche Erstausgabe, übersetzt von Silvia Morawetz, btb, 2018. 208 S. € 10,30.