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Emily Fridlund: „Eine Geschichte der Wölfe“, Roman

Autorin Emily Fridlund. © Kathy Rice

Eine Geschichte voll doppelter Böden und geheimen Laden inmitten eines Spiegelkabinetts. Emily Fridlunds Roman „Eine Geschichte der Wölfe“, gesponnen von der 14jähringen Linda, ist ein überaus gelungenes Debüt. Die Wölfe und die beispielgebende soziale Dynamik im Rudel dienen als Metapher für ein stets wechselndes Machtgefüge. Linda ist über dreißig, wenn sie sich an ihre Teenagerjahre, an die  Eltern, den Lehrer Mr. Grierson und vor allem an die Gardners, Patra, Leo und deren Sohn, den sonderbaren, kleinen Paul, erinnert. Doch wie genau, wie richtig und wahr sind Erinnerungen? Und so weiß man nie, was wirklich geschehen ist. Herrlich, in diesem Irrgarten umherzuwandern.

Nicht nur Touristen, auch Linda, paddeln gern auf den unergründlichen Seen Minnesotas. © www.exploreminnesota.com„Fräulein Originalität“ nennt Mr. Grierson Linda, weil sie ihr Referat lieber über die Wölfe hält, als über die amerikanische Geschichte. Grierson macht die einsame, von den Klassenkameradinnen verspottete Außenseiterin lächerlich, weil er, in der Hierarchie über ihr stehend, quasi ein Patriarch, nicht versteht, dass es in der Geschichte der Kolonisation um das Gleiche geht wie in der Geschichte der Wölfe:
um Macht und Verantwortung.

Linda wächst im Nest Loose River, im Norden von Minnesota, nahe Kanada auf: Dunkle Wälder, steile Hänge, unergründliche Seen und lange Winter. Ihre Eltern in der armseligen Hütte sind der letzte Rest einer religiös angehauchten Hippie-Kommune, die nicht gehalten hat, was sich die Mitglieder versprochen hatten. Die Mutter ist eine wortkarge, in sich selbst versunkene Frau, der Vater ist ständig beschäftigt, Linda ist auf sich selbst gestellt, hat einen weiten Schulweg, aber keine Freundinnen. Das drollige Murmeltier ist in Minnesota zuhause. © widipedia / Marumari / GNU free licence

Sie kommuniziert kaum, aber beobachtet, genau und intensiv. Die Hierarchie in der Klasse, den Lehrer und die rätselhafte Mitschülerin Lily. Später erfährt man, dass Lily mit dem Vater in einer Wohnwagensiedlung lebt und ihre Schuhe aus der Fundlade klaut. Was zwischen ihr und Mr. Grierson vorgefallen ist, kann Linda nur fantasieren. Wer hat die Macht? Der Lehrer, die Schülerin? Und wer ist der „Patriarch“ in der Familie Gardner? Leo, der sich starr an die Gebote der fundamentalistischen Sekte hält, der die Gardners angehören? Oder doch der vierjährige Paul, ein Genie, ein Miniatur-Philosoph oder doch ein krankes Gehirn in einem kranken Körper? Die Eltern tun, als wäre da nichts, doch Linda macht sich Gedanken. Sie wird von Patra, der Mutter Pauls, als Babysitterin engagiert und hofft in ihr eine Freundin gefunden zu haben. Doch der feste Boden der Leserin schwankt, die Spiegel drehen sich und werfen immer wieder neue Bilder zurück.

Reißende Flüsse, wie der StLouis River, geöhren zur Landschaft Minnesotas. © GNU free licenseLindas Erinnerungen sind nicht chronologisch geordnet, die Assoziationen flattern vor und zurück, richten sich mit der Lupe auf Details oder mit dem Fernrohr auf das große Ganze. Ich folge mit Entzücken, lasse mich in den dunklen Wald ziehen und paddle mit Linda über den glatten See, auch wenn das alles ein wenig schaurig ist und der herrische Miniaturpatriarch Paul mir Angst macht. Linda greift niemals ein, auch als Leo Ferien hat, endlich heimkommt, die Macht im Haus übernimmt und gerne auf Linda verzichten würde. Doch da ist sie schon zu tief verstrickt in die sonderbare Familie und die Bezahlung ist auch nicht zu verachten. „Was ist der Unterschied zwischen dem, was man denkt, und dem, was man letztlich tut?“, fragt sich Linda als Erwachsene. Wurde Mr. Grierson wirklich für das, was er über Lily dachte, sich vorstellte, verurteilt? Oder ist er tatsächlich schuldig? Wer trägt die Verantwortung für Pauls Tod? Kann man sich durch Nichtstun davor drücken? Im Spiegelkabinett werden solche Fragen nicht beantwortet. Genau deshalb ist Fridlunds Roman pure Realität, genau besehen, ist auch diese ein Schauerroman. Emily Frdilund , aufgewachsen in Minnesota. © Steve Evans / Grove Atlantic

Auch später, die Gardners sind längst weggezogen, die Eltern verstorben, Linda lebt in Minneapolis, taumelt sie mehr durch das Leben, lässt sich hierhin und dorthin werfen, immer auf der Suche nach Buchcover. © Berlin VerlagLiebe und Geborgenheit. Ich wünsche ihr ehrlich, dass sie die endlich finden wird. Davon erzählt sie vielleicht ein anderes Mal.

In ihrem ersten, überaus beeindruckenden, auch spannenden und in schöner Sprache, mit originellen Bildern erzählten Roman wirft Fridlund ein Bündel von Fragen auf, Fragen, die das Leben täglich stellt. Jede muss sie für sich selbst beantworten.

Emily Fridlund: „Eine Geschichte der Wölfe“, aus dem Englischen von Stephan Johann Kleiner, Berlin Verlag bei Piper, 2018. 384 S. € 22,70.