Emily Ruskovich: „Idaho“, gelungenes Romandebüt
Sie sind eine glückliche Familie, Wade, Jenny und die beiden Töchter, June und May. Es ist Sommer, die Eltern sammeln Holz, die Mädchen streifen durch die Büsche. Die kleine May streitet mit ihrer Schwester, will etwas trinken und setzt sich ins Auto. Aus heiterem Himmel spritzt Blut. May ist tot. Die Mutter hat sie mit der Hacke erschlagen. June flieht in den Wald und wird nie mehr gefunden.
Die Familie ist ausgelöscht. May begraben, von June keine Spur, Jenny lebenslang im Gefängnis und Wade, der zurückgebliebene Vater, weiß bald nicht mehr, dass er eine Familie hatte. Eine genetisch bedingte Frühdemenz löscht seine Erinnerungen. Vielleicht ein Geschenk.
Ein Romandebüt der besonderen Art. Keine Horrorgeschichte, kein Thriller, auch kein Krimi. Viel besser. Ein magischer, auch tröstlicher Roman, eine poetische Meditation, möchte ich sagen, über Gewalt und Macht, über das Erinnern und das Vergessen. Emily Ruskovich erzählt von Liebe und Opferbereitschaft, von Freundschaft und der Kindheit, und vom Weiterleben – trotz allem.
Antworten auf Jennys unfassbare Tat gibt es nicht. Sie selbst weiß auch keine. Ruskovich erzählt vom Sommer, als es passierte und vom harten Winter in den Bergen, als Wade sich in die Musiklehrerin Anne verliebt hat und bei ihr mit steifen Fingern Klavierstunden nimmt. Vom ersten Augenblick an ist auch die Lehrerin in den älteren Schüler verliebt. Auch nach der Heirat weiß sie, sie wird ihn immer lieben, egal wie schrecklich sich seine Krankheit auswirkt. Vergessen ist nur die eine Seite, die andere besteht aus unmotivierten Gewaltanfällen und Mordversuchen. Anne liebt ihn dennoch, immer und ewig.
Die Autorin taucht tief in die Gedankenwelt ihrer höchst lebendigen Figuren ein. Es sind viele Stimmen, die erklingen, und keine geht verloren. Als ob die verlorenen Kinder, Jenny im Gefängnis und ihre Freundin Elisabeth und all die anderen neben Anne, aus deren Perspektive Gegenwart und Vergangenheit erzählt werden, hergehen würden. Aber nicht nur die Menschen, die alle ihren Platz in der Geschichte haben, auch die Tiere spielen eine Rolle in Annes Imaginationen. Hunde, Katzen, der Rabe und die Fliegen, doch die summen nur.
Während Wades Erinnerungen verblassen, kommt Anne der einstigen Familie immer näher. Immer wieder fährt sie mit Wades Pickup – es ist noch immer derselbe, in dem das Unfassbare passiert ist – den Berg hinauf, sieht die Mädchen im Wald spielen, stellt sich vor, wie der Tag verlaufen ist und sieht auch, wie sie sich gegenseitig austricksen und jede die andere ihre Macht spüren lässt. Sie sieht die harte Arbeit des jungen, armen Ehepaars, ist bei der Geburt der ersten Tochter, June, dabei und erlebt die erste Begegnung der späteren Eltern.
Fantasie und Realität, Vergangenheit und Gegenwart haben keine Grenzen. Anne kehrt vom Berg zurück um Wade zu beschützen, Wade, der bald auch Anne nicht mehr erkennen wird.
Der Roman strahlt eine märchenhafte Magie aus, doch Emily Ruskovich erzählt schnörkellos und ohne Pathos. Sie interpretiert nichts, nicht Jenny nicht Anne, auch nicht Wade, nähert sich lediglich aus Annes Perspektive, den mit den Ereignissen verbundenen Menschen, kommt ihnen näher und näher. Die Natur, die Tiere, Objekte dienen als Metaphern für das Leben, und als Leserin muss ich auf jede kleine Bemerkung achten, denn keine ist unbedacht hingeschrieben. Der Ton dieses wunderbaren Romans wird in einem Lied hörbar, das Anne in der Klavierstunde für Wade singt. Es zieht sich in mehreren Strophen durch die ganze Geschichte, die so schrecklich beginnt und doch voll Hoffnung endet.
Nimm von meiner Wand dein Bild
Und lass mich’s nie mehr sehen
Färb das Haar dir herbstlaubwild
Das Grau will dir nicht stehen.
Und so klingt die erste Strophe im Original:
Take your picture off the wall
And carry it away
Dye your hair the shades of fall
Don’t let time turn in to gray.
Emily Ruskovich: “Idaho”, aus dem Englischen von Stefanie Jacobs. Hanser 2018. 380 S., € 24,70