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Lukas Hartmann: „Ein Bild von Lydia“, Roman

Die im Titel des neuesten Romans des Schweizer Autors Lukas Hartmann genannte Lydia hat tatsächlich gelebt. Lydia Escher, verheiratete Weltier, war im ausgehenden 19. Jahrhundert eine der reichsten Frauen der Schweiz, eine selbstbewusste, kunstsinnige Frau, Mäzenin und Gründerin einer Kunststiftung. Ihre Lebensgeschichte ist nicht lang, Hartmann erzählt sie, aus der Perspektive ihrer Kammerjungfer, Gesellschafterin und Freundin Luise, empfindsam und lebhaft.

Lydia Lydia Escher-Welti, gemalt von Karl Stauffer (Kunsthaus Zürich © Free Licence Lydia Escher war die Tochter des Zürcher Politikers und Wirtschaftsmagnaten Alfred Escher, der als Initiator des Gotthardtunnels gefeiert wird. Schon früh hat sie ihre Mutter verloren, führte bald dem Vater den Haushalt und halft ihm bei der Schreibarbeit. Den im Haus Belvoir verkehrenden Gästen, darunter der Schriftsteller Gottfried Keller, dem sie zeitlebens verbunden geblieben ist, war sie eine liebenswürdige Gastgeberin.
Mit 25 heiratete sie den Sohn des mächtigen Bundesrates Emil Welti, Friedrich Emil. Der konnte aufgrund der Ehe mit der Escher-Tochter Karriere machen, saß bald in vielen Aufsichtsräten. Seine Frau begann sich zu langweilen. Der bekannte Maler Karl Stauffer-Bern, wusste Abhilfe zu schaffen. Bei Porträt-Sitzungen im Wintergarten von Belvoir, schoss Amor seine Pfeile ab.
Der Skandal brach aus, als Lydia mit Stauffer nach Italien reiste. Der Ehemann sperrte die Widerspenstige ins Irrenhaus, Lydia begehrte die Scheidung. Luise, so wird das Mädchen Marie-Louise gerufen, ist immer bei ihr. Ein frühes Foto von Lydia Escher, Datum unbekannt. © lizenzfrei

Mit 15 kommt Luise, Tochter aus armer, kinderreicher Familie, als Mädchen für alles ins Elternhaus von Lydia Escher-Welti, das Belvoir. Sie ist willig und wohlerzogen, kann Lesen und Schreiben „und hat vor allem keine Burschen im Kopf“, sagt die Tante, die sie empfohlen hat. Luise hat die früheste Kindheit in Bergamo verbracht, der früh verstorbene Vater war Italiener. Zu Fuß wanderte seine Witwe mit den Kindern über den verschneiten Splügen zurück in ihre Heimat und ließ sich in Pfäffikon im Kanton Zürich nieder. Luise war damals ungefähr sechs Jahre, so genau weiß sie das nicht mehr, doch an die Schrecken dieser langen, beschwerlichen Reise wird sie sich noch lange erinnern. Ganz sicher bis zu ihrer Hochzeit mit dem strebsamen Kellner Henri, den sie Café von Genf, natürlich im Beisein „Frau Lydias“, wie sie ihre Dienstgeberin nennen sollte, kennen gelernt hat. Luises Glück begann als Lydias endete.

Karl Stauffer-Bern, Selbstporträt. © lizenzfreiLydia Eschers Leben ist genau dokumentiert, doch Hartmann belässt es nicht bei den Fakten, das Innenleben der beiden Frauen, ihre Träume und Hoffnungen, ihre Einsamkeit und der Wille, sich auch als Frau durchzusetzen und selbst zu behaupten, interessieren ihn mehr. „Gedankenfühligkeit“ nennt der Autor Friedrich Ani, diese Methode, sich in Menschen einzufühlen, nennen. In seinem Roman "Der namenlose Tag"  (Suhrkamp, 2015) schreibt er sie dem pensionisrten Kommissar Jakob Franck zu. Bei Hartmann ist jedoch die Gedankenfühligkeit nicht von der Gedankenschwere belastet.Alfred Escher mit seiner Tochter Lydia. Datum unbekannt. © lizenzfrei

Auch wenn Lydia Luise mitunter als Freundin behandelt, so trennenen gegeneinander, währen Lydia ihre große Liebe verliert, findet Luise die ihre, während jene dem Tod herbei sehnt, erwacht diese zum Leben ihre Einsamkeit Luise ist offenbar eine erfundene Figur, doch erinnert ihr Name an Lydias Jugendfreundin, die Zürcher Malerin Marie Luise Katherina Breslau.

Ob erfunden oder wahr, der Autor erweckt beide Frauen und auch ihre Umgebung, den nur im Beruf gewandten Ehemann, dessen autoritären Vater, der den Sohn noch immer unter der Fuchtel hat, den exzentrischen Künstler Stauffer oder die Mägde und Knechte, zum Leben. Lesend ist die sittenstrenge haute Volée Zürichs hautnahe zu spüren, wie auch das unter der italienischen Sonne erhoffte leichte Leben. Wäre nicht der eingefrorene Standesunterschied, Lydia und Luise hätte tatsächlich innige Freundinnen werden können. So aber muss die eine sterben und die andere kann (endlich) heiraten.

Lukas Hartmann: „Ein Bild von Lydia“, Diogenes 2018, 356 S. € 24,70.