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Anne Holt: „Ein Kalter Fall“, Kriminalroman

Autorin Anne Holt, © Peter von Felbert

Wenn die Realität die Fantasie überholt, dann ist es vorbei mit den wohligen Schauern bei der Lektüre eines Kriminalromans. Ausgangspunkt im neuen Roman der norwegischen Autorin Anne Holt ist eine Bombenexplosion mitten in Oslo. 29 Menschen sterben. Wenig später explodiert eine zweite Bombe, neue Opfer sind zu beklagen. So könnte es sein. Oder ist es so? Am 7. April rast ein Verrückter mit einem Lastwagen in die Fußgängerzone von Stockholm und tötet dabei vier Menschen. Er zeigt sich befriedigt, „Ungläubige“ getötet zu haben. Die Fiktion ist längst zur Realität geworden.

Es ist elf Jahre her, dass sich die Polizistin Hanne Wilhelmsen ins Privatleben zurückgezogen hat. Nach einer Schussverletzung sitzt sie gelähmt im Rollstuhl, schottet sich von der Umwelt ab, kommuniziert nur mit ihrer Frau und der gemeinsamen zehnjährigen Tochter. Doch unerwartet bricht der Ex-Polizist und einst enge Vertraute Billy T. in ihr Exil ein, bittet sie um Hilfe, weil er den Verdacht hat, dass sein Sohn in militanten islamistischen Kreisen verkehrt. Mitten in diesem schwierigen ersten Kontakt nach elf Jahren explodiert die Bombe. Hannes Fenster bersten, Billy T. verschwindet, um seinen Sohn zu suchen, weil er fürchtet, dieser habe mit dem Attentat zu tun. Norwegischer Nationalfeiertag in Oslo: Ganz Norwegen auf der Straße (17 mai 2010, © internet)

Hanne hat anderes zu tun. Sie wird vom Präsidium gebeten mit einem jungen etwas sonderbaren Polizisten, einem Außenseiter wie sie selbst, zusammenzuarbeiten, um einen alten Fall zu lösen.

Wie die Handlungsstränge, die Suche nach den Attentätern, Billy Ts Probleme mit seinem Sohn und der „kalte Fall“, ein ermordetes Mädchen, immer näher aneinanderrücken und schließlich alle Zweifel beseitigt werden, zeigt Anne Holts Meisterschaft. Sie begnügt sich niemals mit einem gewöhnlichen Spannungsroman, sagt nicht nur in diesem, dem 9. in der Hanne-Wilhelmsen-Reihe, etwas über die Welt, in der wir leben, aus. Sie schildert lebendige Menschen, mit kompliziertem Innenleben, dienstlichen und auch privaten Verwicklungen. Diesmal fesselt der Charakter von Billy T, früher der Einzige, dem Hanne als Polizistin und Frau vertraut hat. Eine gemeinsam verbrachte Nacht hat sie dann entzweit. Hanne wollte nichts mehr mit Billy T zu tun haben. Doch seine Verzweiflung beim ersten Treffen reißt sie aus ihrer Lethargie. Außerdem hat sie an ihrem neuen Adlatus, dem neurotischen Henrik, viel Freude. Er ist ein unkonventionell denkender, kluger Bursche.

Anne Holt, nicht zu verwechseln mit der Romanfigur Hanne Wilhelmsen, auch wenn sie selbst mit einer Frau verheiratet ist und eine Tochter aufzieht. © Ole GunnarSofort werden die beiden Bombenattentate islamistischen Vereinigungen zugeschoben. Dass die erste Bombe in einem islamischen Uentrum explodiert ist, wird als Streiterei unter Fremden abgetan. Unmöglich, dass Norweger selbst hinter den Attentaten stecken. Das Volk formiert sich gegen Flüchtlinge und Immigranten; die Polizei tappt im Dunkeln. Der erste Verdächtige ist längst eine Leiche. Der norwegische Titel gibt einen Hinweis, der dem Terror ein neues Gesicht verpasst: „Offline“. Was passiert, wenn die terroristische Gruppe kaum kommuniziert, einen völlig unüblichen und daher auch unverdächtigen Weg wählt? Keine E-Mails, keine Nachrichten im Facebook, auch keine Briefe mit der Post, keine Spuren für die Ermittler. Die warten in der Sackgasse auf das nächste Attentat. Der Frühling naht und mit ihm der norwegische Nationalfeiertag, an dem tausende Menschen, ganze Familien mit Kind und Kegel in der Nationaltracht, durch die Stadt marschieren. Wann, wenn nicht dann?

Noch einmal geht alles gut. Ein mutiger Obdachloser, ein schnell reagierender, eigenständig handelnder Polizist können das geplante Morden verhindern. Und wenn die Polizei endlich  Hanne Wilhelmsens und des cleveren Henrik Schlussfolgerungen zur Kennnits nehmen, scheint es auch endlich eine heiße Spur zu geben.

Eine Verdächtige wird verhaftet, doch sie ist sicher, dass man ihr nichts nachweisen kann, weil es keine Beweise gibt. Die Bomben wurden zwar rechtzeitig entschärft, doch die Extremisten, welcher Art auch immer, wollen wissen: „Das hier war nur der Anfang.“, lautet der letzte Satz des Romans. Anne Holt lässt ihre Leerinnen ohne Trost zurück.  Buchcover © Piper, 2017
Am 22. Juli 2011 ermordete der rechtsextreme, islamfeindliche Norweger Anders Breivik in Oslo und auf der Insel Utøya 77 Menschen, vor allem Jugendliche.
Am 7. April 2017 tötete ein islamfreundlicher im Untergrund lebender Immigrant vier Menschen mit einem Lastwagen. Der Usbeke Rakhmat A. hat sich, wie Breivik, sofort nach der Tat gestellt und gestanden. Der Irrsinn hat viele Gesichter und Extremismus kennt keine Nation oder Religion.

Anne Holt: „Ein kalter Fall“ („Offline“), übersetzt von Gabriele Haefs, Piper 2017. 432 S. € 22,70. E-Book: € 18,99.