Kanae Minato: „Geständnisse“, Thriller
Einen Kriminalroman darf man Kanae Minatos Roman nur insofern nennen, als tatsächlich ein Mord im Zentrum der „Geständnisse“ steht. Doch es tritt kein ermittelnder Kommissar auf, denn die Mutter des Opfers wehrt sich nicht gegen das Ergebnis des Polizeieinsatzes: Tod durch Ertrinken, ein bedauerlicher Unfall. Sie nimmt die Rache selbst in die Hand. Das Opfer war vier Jahre alt, die Täter sind Teenager, noch keine 15.
Mit ihrem Debüt hat die 1973 geborene Japanerin einen aufregenden irritierenden Roman geschrieben, der Thriller und Gesellschaftskritik und Durchleuchtung der menschlichen Psyche zugleich ist. Trotz der eiskalten Grausamkeit, mit der die Autorin Täter_innen und Opfer erzählen lässt, bietet Minato puren nie enden sollenden Lesegenuss.
Manami, die kleine Tochter von Yūko-sensei, der Lehrerin an einer Mittelschule, ist im Schwimmbecken der Schule ertrunken. Dies teilt Yūko ihrer Klasse in einer langen, umständlichen, mit Höflichkeiten gespickten Rede ihrer Klasse mit. Die Polizei hat einen Unfall festgestellt, doch sie, sagt Yūko, wisse, dass es Schüler dieser Klasse seien, die Minami umgebracht hätten. Und sie werde das Recht selbst in die Hand nehmen und die Täter bestrafen. Zum Glück ist die für europäische Leserinnen etwas zähe Ansprache der Lehrerin nicht die einzige Stimme, die Kanae Minato zu Wort kommen lässt. Andere sclagen einen lockeren Ton an, sprechen wie ihnen der Schnabel gewachsen ist. Ob grausam oder nicht, der Tod der fröhlichen, vertrauensvollen Vierjährigen erschreckt, fesselt aber auch. Wie kann es dazu kommen, dass Kinder Kinder ermorden? Die Geständnisse der Beteiligten und das explosionsartige Ende helfen zu verstehen.
An den Haaren herbeigezogen ist dieser Plot keineswegs. Die Realität ist nicht weit von der Fiktion entfernt. Was Minatos Roman so besonders macht, ist nicht nur der glasklare Stil, in dem sie ihre Protagonist_innen, vor allem die Jugendlichen aus ihrer Klasse, berichten lässt, sondern vor allem die genaue Analyse der Kräfte und Ursachen, die diese im Umbruch befindlichen Jugendlichen antreiben. Nicht nur das Umfeld, Eltern, Lehrer, ist beteiligt, auch das extrem auf Leistung und Erfolg ausgerichtete Gesellschaftssystem Japans hat seinen Anteil an den Schwierigkeiten Heranwachsender.
Minato psychologisiert nicht, urteilt nicht, lässt einfach die Betroffenen von ihrem Alltag erzählen, von ihren Defiziten, Verletzungen und Sehnsüchten, und eine Art von Gewissenserforschung betreiben. Was nicht heißt, dass alle vom schlechten Gewissen geplagt werden. Das Unrechtsbewusstsein scheint verkümmert oder noch nicht entwickelt zu sein. Geschickt verschiebt die Autorin mit den einzelnen Geständnissen die Perspektive, sodass es kein eindeutig Böses oder Gutes gibt und die Leserin, zwischen Abscheu und Mitleid, Zustimmung und Übelkeit schwankend, ihre Gefühle immer neu ordnen muss.
Kapitel für Kapitel habe ich auf ein versöhnliches Ende gehofft, doch die Autorin kennt keine Gnade, die Charaktere verändern sich nicht, Umkehr ist nicht möglich. Vor mehr als 200 Jahren hat das Friedrich Schiller präzise zusammengefasst: „Das eben ist der Fluch der bösen Tat, dass sie, fortzeugend, immer Böses muss gebären.“
Alle handelnden Personen in diesem aufwühlenden Roman sind tief verletzt. Auch Yuko, die einen teuflischen Plan ausheckt, um sich an den am Tod ihrer Tochter schuldigen Schülern zu rächen: Sie versieht die Schulmilch mit dem Blut ihres Mannes und Vater der toten Manami, der an HIV erkrankt ist und sich zum Sterben zurückgezogen hat.
Diese Idee hat Kane Minato, die selbst Lehrerin war, ursprünglich in einer Kurzgeschichte verwendet, die sie später zum Roman ausgearbeitet hat.
In Japan ist „Kokuhaku / Geständnisse“ bereits 2008 erschienen. 2010 hat Regisseur Tetsuya Nakashima einen Psychoschocker gedreht, der ein Jahr später in den deutschsprachigen Kinos zu sehen war. Jetzt ist auch der Roman auf Deutsch zu lesen. Der drastische Film, mit vier japanischen Academy Awards ausgezeichnet, ist als DVD erhältlich.
Kanae Minato: „Geständnisse“, „Kokuhako“, übersetzt von Sabine Lohmann, C. Bertelsmann 2017. 272 S. € 17,50.