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Christina Hesselholdt: Zum Klang der eigenen Musik

Die dänische Autorin Christina Hesselholdt

Traurig und zugleich überaus witizig ist Christina Hesselholdts neuer Roman Til Lyden af sin egen tromme / Zum Klang seiner eigenen Trommel. In der deutschen Übersetzung heißt das köstliche Buch Venezianisches Idyll. Erzählt wird von Schwester und Bruder, die beide nicht so tun, wie die Eltern verlangen. Gustava, die Schwester, hat von allem genug und will sterben. Mikael, der Bruder, will sie retten. Die Berichte der Geschwister ergänzt ein selbstbewusster Erzähler. Präsent ist auch Gustav von Aschenbach aus Thomas Manns Novelle  Der Tod in Venedig.

Wappen von Tromsø. Gustava fliegt von Kopenhagen nach Norwegen, um zu sterben. © wikipedia Erst wollte sie sterben, jetzt will sie leben. Wie der Erzähler aufzählt, sind es sechs Stationen, die Gustava auf ihrer Hinwendung zum Leben durchwandert. Die letzte ist ein Heulanfall, der sie nach der Begegnung mit einem ausgestopften Eisbären durch- und zurechtschüttelt. Gustava verlässt Tromsø, wo sie sterben wollte, und landet in Venedig. Mikael, eine autistische Persönlichkeit, wird sie nicht gehen lassen, er braucht sie, will nicht ohne Gustava leben. Als er ihren Abschiedsbrief findet, verlässt er unter Aufbietung seiner Kräfte seine vier Wände und Kopenhagen, reist Gustava nach, um sie vom Suizid abzuhalten. Das Erlebniszentrum Polaria in Tromsø. Gustava hat es nicht besucht, sie schaut den Sternenhimmel. © wikipediaNoch ahnt er nicht, dass Gustava längst geplant hat, am Leben zu bleiben und dieses eventuell auch zu genießen. Schuld daran ist auch ein unbekannter Flugkapitän, in dessen goldene Tresse sie sich verliebt hat. Mikael hetzt also hinter seiner Schwester her, die in Venedig sein soll. Er wird sie auf der labyrinthischen Insel finden. Sie aber will nicht gefunden werden, entzieht sich ihm immer wieder.  Der Eisbär begrüßt die Hotelgäste, Gustava erinnert er an die Plüschtiere ihrer Kindheit. Sie umarmt ihn. © Casa Padrino, Deko SkulptuDas Fangenspiel gibt Gelegenheit alles Mögliche, Bekanntes und Neues über die Stadt der bildenden Kunst und der Literatur kennenzulernen. Tadzio, das Ziel des Begehrens Gustav von Aschenbachs, tritt auf und auf der letzten Buchseite ist eine lange Literaturliste, von Jorge Luis Borges und Giacomo Casanova bis Alice B. Toklas und Tor Ulven zu studieren. Da wird die Venezianische Idylle zum Bildungsroman. Köstlich! Gustava mäandert weniger über Plätze und Brücken, sie sitzt in der Sonne und durchforstet ihre Erinnerungen, lässt Kindheit und Jugend Revue passieren.Mikael besucht das Museo Correr, weil er es im Museum besser ertragen kann als draußen in den Menschenmassen. Er betrachtet Antonio Canovas Statue «Daidalus und Ikarus». ©  Museo CorrerChristina Hesselholdt, geboren 1962, gilt als eine der außergewöhnlichsten Stimmen der zeitgenössischen dänischen Literatur. Ihr Werk wurde vielfach ausgezeichnet, zuletzt (2018) mit dem Grand Prize of the Danish Academy. So steht es bei ihrem deutschen Literaturverlag, Hanser. Von Hesselholdts 15 Romanen sind zwei bei Hanser erschienen: 2018 Gefährten, das Roman-Porträt Vivian 2021. Ihr reiches Werk an Kinderliiteratur ist unübersetzt. Jetzt ist ihr jüngster Roman, erschienen 2023, von Ursel Allenstein übersetzt worden. Til Lyden af sin egen Tromme (Zum Klang der eigenen Trommel) klingt gut, auch aufregend, ist jedoch, wie so viele Einschübe im Roman, ein Zitat, Henry David Thoreau (1817–1862) zugeschrieben. Der amerikanische Lehrer und Philosoph ist Autor des Klassikers Walden von 1854 und des Essays Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat von 1849. Aus Walden stammt auch das Hesselholdts Titel inspirierendes Zitat: “Wenn ein Mann mit seinen Kameraden nicht schritthalten kann, liegt das vielleicht daran, dass er auf einen anderen Trommler hört.“ Ein Flugkapitän gibt Gustava  unwissentlich den Anlass, umzudenken und sich dem Leben zuzuwenden. © vecteezy.comDas tun auch Gustava und Mikael. Sie hören auf ihre eigene Musik, nicht auf die Eltern oder auf das Blöken der Schafherde. In dieser privaten, so amüsanten und verschlungenen Geschichte steckt eine allgemeine Wahrheit, die gerade jetzt, wo die Schafe besonders laut blöken zu beherzigen wäre.
Umso ärgerlicher ist der Fehlgriff im deutschen Titel, selbst wenn er ironisch gemein ist, was erst am Ende erfahrbar ist. Um ein Idyll geht es keineswegs. Der nach Canale Grande-Romanze klingende Buchtitel samt dem Fantasiedolce auf dem Cover lässt auch die falschen Leserinnen zum Buch greifen. Mit Venezianische Idylle setzt der Verlag ein falsches Zeichen und erreicht Leserinnen, die Christina Hesselholdt enttäuschen wird. Der Roman ist großartig, und mit venezianischer Idylle oder La biondina in gondoleta-Kitsch hat die verzwickte Geschichte eines einander suchenden und wieder meidenden Geschwisterpaares nichts zu tun. Eines der schönsten Venedig-Klischees: Die schwarzen Gondeln. Weder gustava noch Mikael sind eingestiegen. © vivovenetia.deVenedig ist als Schauplatz gewählt, auf die üblichen Klischees wird verzichtet, und dass die Suche nach der Lebensfreude eher eine Labyrinth-Erzählung ist denn der tausend erste Venedig-Roman, sagt der Roman über sich selbst aus. Eher kann man Venezianisches Idyll noch als Roman über den Tod in Venedig bezeichnen. Doch bei Christina Hesselholdt wird nicht gestorben. Gustava, die natürlich nach Gustav von Aschenbach, dem traurigen Schriftsteller in Thomas Manns, Plakat zu Viscontis Ffilm «Der Tod in Venedig» . © CineMaterialvon Lucchino Visconti 1972 verfilmter Novelle, benannt ist, wählt Venedig als Ort, wo sie leben lernen will. Damit löst sie sich auch von den Eltern, sie muss ihnen nicht mehr zuwider handeln, sie kann nach Venedig reisen und Negroni trinken, obwohl ihre fordernden Eltern Venedig besetzt haben. Und auch Mikael, der Bruder, findet ein neues Leben, Gustava betrachtet den Anhänglichen nicht mehr als Feind. Gerade hat sie ihn noch angeschrien, doch dann …, mischt sich wieder einmal der Erzähler ein, spricht nicht zu den Leserinnen, wie so oft, sondern zu Mikael.:Buchumschlag. Gestaltung: Anzinger & Rasp, München Motiv: © Kensuke Hosoya / Hanser Berlin “Du hast eine Prämie verdient, deine Schwester kommt mit dir zurück in dein Haus.“ Bald nachdem die Geschwister wieder in Kopenhagen sind und sich von den Eltern abgenabelt haben, greift Putin die Ukraine an. Die Selbstbespiegelung weicht neuen Ängsten. Damit sind sie jedoch nicht allein. Gustava sucht nach dem am weitesten von Russland entfernten Ort und will lieber über Blumen reden als über Kriege. Der letzte Satz knüpft an den dänischen Buchtitel an: Draußen vor dem Haus ertönt ein Schlag, er klingt wie ein Kanonenschuss. Doch es ist der Nachbar, der zwei Topfdeckel zusammenschlägt, um die Krähen  zu vertreiben. Gustava weiß: „Sie flattern auf, denn für sie klingt es wie Kanonenschläge.“ Die Moral von der Geschicht‘ leuchtet deutlich: Höre auf deiner eigene Musik.

Christina Hesselholdt. Venezianisches Idyll / Tyl lyden af sin egen tromme, aus dem Dänischen von Ursel Allenstein. 192 Seiten, Hanser Berlin, 2025,  € 24,70. E-Book € 17,99.