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Das Böse kommt auf leisen Sohlen

Nicola Upson, erfolgreich mit Fantasie und Josephine Tey. © Keith Heppel

Mit ihren außergewöhnlichen Kriminalromanen hat die englische Autorin Nicola Upson dank des Schweizer Verlags Kein & Aber auch den deutschen Sprachraum erobert. Mit Sinn fürs Pikante hat Upson ihre Heldin nach dem Leben und Wirken einer ihrer Kolleginnen geformt. Auch der ermittelnde Kommissar ist der Doppelgänger eines längst verstorbenen Kollegen, der als literarische Figur existiert hat.

Plakat mit einem Bild von Josephine Tey und den Übersetzungen ihrer Romane. © Oktopus VerlagAufklärung tut Not: Josephine Tey (1896–1952), mit bürgerlichem Namen Elizabeth Macintosh, gilt als Ikone des sogenannten Goldenen Zeitalters der englischen Kriminalliteratur. Sie hat erfolgreiche Theaterstücke für das Londoner Westend und auch eine Reihe von Kriminalromanen geschrieben. Ihr Inspector Grant ist Vorbild für Upsons Detective Inspector Archie Penrose, der gemeinsam mit der neugierigen Freundin Josephine Tey verzwickte und tief in die jeweilige Zeit- und Familiengeschichte hineinreichende Morde aufklärt. Cover der deutschen Ausgaben von Josephine Teys Romanen, erschienen im Oktopus verlag. © Opktopus Verlag Nicht nur Tey hat sich für das Theater begeistert, auch Nicola Upson liebt das Bühnengeschehen und lässt gleich ihren ersten Roman, Experte in Sachen Mord, 2023 (An Expert in Murder, 2008), am Theater spielen. Auch die im Frühjahr erschienenen Bände – Drehbuch des Todes (Shot with Crimpen, 2023) und Wenn die Masken fallen (Angel with two faces, 2010) – haben die Bühne als Schauplatz. Besondere Bühnen allerdings: ein Filmstudio in Hollywood und eine Arena hoch auf einem Felsen in Cornwall. Das Minack-Theatre in Cornwall, 1998. © Chef / wikipedia
In Drehbuch des Todes, dem jüngsten Upson-Band übrigens, tritt der britische Regisseur Alfred Hitchcock auf, der nach Amerika verpflichtet worden ist, um Daphne du Mauriers berühmten Roman Rebecca zu verfilmen. So weit, so verbürgt. Mit Jane Fonda und Laurence Olivier als Ehepaar Winter im englischen Schloss Manderley ist der Film 1940 in den Kinos gezeigt worden. Daphne du Maurier, Autorin von „Rebecca“, dem Roman, den Alfred Hitchcock verfilmt hat. © wikipediaDass Josephine Tey bei den Dreharbeiten aufgetaucht ist, ist plausibel. Sie war mit den Hitchcocks befreundet; der englische Regisseur hat 1937 einen ihrer Romane, nämlich A Shilling for Candles verfilmt. Allerdings war Tey mit Young an Innocent (Jung und unschuldig) wenig einverstanden mit den Veränderungen, die Hitchcock an ihrem Roman vorgenommen hat. Auch dies ist eine verbürgte Tatsache. Rebecca wurde großteils in Amerika gedreht, doch das fiktive Schloss Manderley liegt in England, also wurden sowohl die Außen- wie die Innenaufnahmen dort gedreht. Milton Hall, das Vorbild für die Innenräume des fiktives Schloßes Manderley. ©  theglamaprd.comDie beiden Häuser, die du Maurier als Inspirationsquelle angibt und auch im Film zum filmischen Manderley verschmolzen sind, stehen noch heute. Milton Hall, ein Privathaus in Cambridgeshire (Innenräume), und Menabilly, ein Haus, versteckt in den Wäldern an der Küste von Cornwall, das du Maurier verpachtet hat.  Versteckt im Wald,  Menabilly, Vorbild für Manderley im Roman und im Film. © Antique Print
Genial verbindet Upson Facts mit Fiction, beobachtet die Dreharbeit in Amerika und führt die Leserinnen zurück in den Ersten Weltkrieg, als Menabilly ein Lazarett war und die junge Daphne mit ihrer Familie dort im privaten Teil des Schlosses einen Sommer verbracht hat. Es ist unmöglich, in der Nacherzählung der verschlungenen Handlung von Drehbuch des Todes Fantasie und Realität auseinanderzuhalten. Upson ist offenbar auch eine Meisterin der Recherche, denn je tiefer man beim Lesen in ihre Geschichten eintaucht, desto mehr „echte“ Figuren tauchen auf. Rowena Cade, 1982. Auch die Gründerin des romantischen Minnack Theatre, Rowena Cade (1893–1983), spielt eine Rolle im Krimi „Wenn die Masken fallen“. © wikipedia Das gilt auch für den zweiten im Frühjahr aufgelegten Roman, Wenn die Masken fallen, der in Cornwall rund um das berühmte Minack Theatre, eine Open-Air-Bühne mit Blick auf das Meer, spielt. Dort ist Detecive Archie Penrose aufgewachsen und lädt Josephine ein, den Sommer 1935 mit seinen Cousinen, den „echten“ Schwestern Montgomery, deren Ruhm als Bühnenausstatterinnen unter dem Pseudonym Motley bis nach Amerika gereicht hat, zu verbringen. Das 100 Jahre alte Minack Theater wird auch heute noch bespielt. © cornwallforever.co.ukSie sollte Zeit und Ruhe haben, um an ihrem nächsten Roman zu arbeiten. Doch daraus wird nichts, statt eines Begrüßungscocktails gibt es ein Begräbnis und verwirrende Familiengeschichten samt neuen Leichen. Der Originaltitel, Engel mit zwei Gesichtern, deutet es schon an: Auch im Guten kann das Böse stecken.
Nicola Upson schreibt Unterhaltungslektüre, deshalb bleiben ihr die Feuilletons verschlossen; Großkritikerinnen unterhalten sich nicht, sie analysieren und sezieren mit dem germanistischen und linguistischen Besteck. Die alte Queen Mary, die von 1936 bis 1967 in Betrieb war. Hitchcocks Frau reiste knapp vor Ausbruch des 2. Weltkriegs auf dem Ozeanriesen von London nach New York. Auch Josephine Tey war auf dem Dampfer, um ihre Partnerin, Martha, Mitarbeiterin Hitchcocks, zu besuchen. © wikipedia. Doch die Kunst der Nicola Upson besteht nicht nur im nahtlosen Verweben von verbürgten Fakten und frei erfundener Handlung. Sie zeichnet ihr Personal mit feinen Strichen und verzichtet auf die plakativen Farben Schwarz und Weiß. Das Böse kommt bei ihr auf leisen Sohlen und entsteht oft aus dem Guten. Cover von „Drehbuch des Todes“. © Kein & Aber VerlagDie Autorin urteilt und moralisiert nicht und bindet ihre Geschichten in die Lebensrealität der Menschen zu Lebzeiten von Josephine Tey, die zwei entsetzliche Kriege miterlebt hat, ein. Zwar kommen, wie in anderen Serienkrimis, neben den beiden Hauptpersonen auch immer wieder andere bereits Bekannte vor, doch verzichtet Upson auf die gern verwendete Methode der Module, die im Computer bereitliegen und einfach neu zusammengesetzt werden. Lieber schildert sie die Natur, ob die Landschaft in Cornwall oder an der Küste von Point Lobos.
Nicola Upson lässt Josephine Tey als weibliches Pendant von Mr. Watson oder Captain Hastings auftreten, allerdings hat Archie Penrose keinerlei Ähnlichkeit mit   Sherlock Holmes oder Cover „Wenn die Masken fallen“. © Kein & Aber VerlagHercule Poirot; sein Vorbild stammt von Josephine Tey selbst. Welch hervorragende Krimi-Autorin diese war, ist auch Jahrzehnte nach ihrem Tod zu überprüfen: Der Oktopus Verlag hat die Kriminalromane als analoge und digitale Ausgabe im Programm.
Zum Abschluss lasse ich einen Bürgen sprechen, Barry Forshaw, Fachmann für Kriminalliteratur und Film: „Innerhalb einer relativ kurzen Zeit hat sich Nicola Upson als eine der erfinderischsten (sic) und ungewöhnlichsten Krimiautorinnen etabliert … es ist leicht zu spüren, dass Tey selbst von diesen fiktiven Vorstellungen ihres Lebens begeistert wäre …“

Nicola Upson bei Kein & Aber, 2024
Wenn die Masken fallen, (Angel with two faces), aus dem Englischen von Verena Kilchling; 542 Seiten. € 23,70. E-Book € 18,00
Drehbuch des Todes, (Shot with Crimson), aus dem Englischen von Anna-Christin Kramer; 384 Seiten, € 22,70. E-Book € 18,00
Zwei weitere Bände – Die Schatten alter Sünden und Tödliche Sommerfrische –sind übersetzt und erscheinen im Oktober 2024.