Seltsame Blüten in den grünen Ebenen Irlands
Irland gegen Ende des 20. Jahrhunderts. Donal Ryan erzählt von drei Generationen der irischen Familie Gladney und von all dem, was nicht besprochen wird. Rassismus und der Wandel der Gesellschaft sind nicht seine Themen, lieber erzählt er von den Menschen, von Liebe und Sexualität, Freundschaft und Toleranz. Seltsame Blüten (Strange Flowers) nennt der preisgekrönte irische Autor seinen sechsten Roman.
„Alles Licht wich aus Paddy Gladneys Augen, als seine Tochter verschwand; alle Freude wich aus seinem Herzen.“ So beginnt Ryans schmaler Roman, dessen ersten Abschnitt er mit Genesis betitelt. Den letzten nennt er Offenbarung. Die Bibel spielt im katholischen Irland der 1970er Jahre eine wichtige Rolle, auch in der Familie Gladney. Besonders Kit, die Ehefrau Paddys, ist eine fromme Kirchgeherin, die ihr Leben nach den Geboten richtet. Paddy huldigt weniger einem unsichtbaren Gott als der Pragmatik des Alltags und er sieht mit dem Herzen das Licht in den Augen des Gegenübers. So entwickelt er auch eine warme Freundschaft zu Alexander, der bei den Gladneys einzieht. Über die Gladneys, das stille alternde Ehepaar im kleinen Steinhaus, das ihnen die Gutsbesitzerfamilie verpachtet hat, gibt es immer etwas zu tuscheln in Knockagowny, wo jeder jeden kennt. Das ländliche Gebiet ist ein irisches Townland in der Grafschaft Longford, die sich im Becken des Flusses Shannon ausbreitet. Zum Einkaufen geht man nach Tipperary. Zuerst verschwindet die 20-jährige Tochter Mary, zärtlich Moll genannt, und lässt die Eltern in Trauer zurück. Nach fünf Jahren kehrt sie zurück. Das Getuschel bekommt Nahrung. Moll gibt keine Auskunft, die Eltern stellen keine Fragen.
Bis Alexander im nahen Nenagh auftaucht und nach Knockagowny und der Familie Gladney fragt. Der Dorfpolizist besucht Paddy und berichtet, dass der Fremde einstweilen im Gefängnis verwahrt wird, „weil ihn niemand kennt, er einen englischen Akzent hat und schwarz ist“, liest Sergeant Crossley aus seinem Notizbuch ab.
Paddy entschließt sich nach Nenagh zu fahren, um mit dem dunkelhäutigen Fremden zu sprechen. Er kommt mit ihm zurück, und das Getuschel wird zum Orkan, der sich allerdings auch im Pub bald wieder legt. Der sympathische junge Mann aus London ist Molls Ehemann und Moll ist schwanger. Wie edel und gut Alexander tatsächlich ist, stellt sich erst heraus, als der kleine Joshua zur Welt kommt. Alexander hat es nicht leicht, sich ins Dorf zu integrieren, doch Paddy, Molls Vater, respektiert ihn von Beginn an und wird ihm ein guter Freund und Schwiegervater. Im Pub bekommt der dunkelheutige junge Mann Wörter zu hören, die heute tabuisiert sind. Dem Diogenes-Verlag ist es zu danken, dass diese (es sind Zitate) auch in der Übersetzung nicht ausradiert, verballhornt und ersetzt worden sind. Wenn eine Gesellschaft durchleuchtet werden soll, dann muss man ihr aufs Maul schauen. Was da herausquillt, darf nicht beschönigt werden, vor allem nicht in der Literatur, wenn sie einen Spiegel vorhalten will.
Alexander ist arbeitswillig und freundlich und schafft es, anerkannt und geachtet zu werden. Moll äußert sich nicht, lebt stumm neben ihren Eltern und dem Ehemann her. Der zeigt, dass er sie aufrichtig liebt und sich um sie sorgt, Moll hingegen macht deutlich, dass sie ihn nicht braucht. Er hat seine Schuldigkeit getan, kann gehen. Alexander aber bleibt, zieht gemeinsam mit Paddy, der ein glücklicher Großvater ist, den neuen Mitbewohner Joshua auf.
An den Übertiteln der Abschnitte sind die Hauptthemen leicht zu erkennen. Alle diese sprechenden Hinweise sind „Bücher“ aus dem Alten Testament, bis auf den letzten, Offenbarung, der bezieht sich auf die Apokalypse, das Buch Johannes. Auf Genesis lässt Ryan Richter, Hohelied, Weisheit folgen, um mit Offenbarung alle Zweifel zu beseitigen, alle Rätsel zu lösen. Ryans Einfühlungsvermögen und seine Liebe für Land und Leute Irlands lassen auch die Leserin selbst tief eintauchen in das Leben auf der grünen Insel. Auch wenn Ryan sich mit Seltsame Blüten in seine Kindheit zurückversetzt, er ist 1976 geboren, haben sich die Menschen, in Irland und auch anderswo, nicht verändert. Tratsch und Klatsch haben sich durch die Medien vermehrt und der Rassismus und Hass auf alles außerhalb der eigenen Norm zeugen weniger seltsame als giftige Blüten.
Ryan erzählt nichts von alldem, seine ruhig dahinfließenden Sätze wecken angenehme, positive Gefühle und die Bilder, die er für die Landschaft und auch die Gefühle und Gedanken der Gladneys findet, animieren zum Nachdenken und Träumen. Warum die heimgekehrte Ausreißerin Moll so störrisch und schweigsam ist, erfährt die Leserin erst im Abschnitt „Offenbarung“ und auch, dass sie das Licht in ihren Augen wieder anzünden kann. Doch ob Joshua, Enkelsohn von Paddy und Kit, der Teenager Donal R. ist, wage ich nicht zu sagen. In jedem Fall, Joshua wird ein Dichter, der poetische Romane schreiben wird. Einstweilen allerdings sitzt Josh noch am Ufer des Shannon mit der angebeteten Honey und weiß nicht, wie er sich ihr nähern soll.
Nicht ohne Grund nennt ihn sein Kollege Sebastian Barry „den König der neuen Welle irischer Literatur“. (Zitat aus The Guardian)
Donal Ryan: Seltsame Blüten / Strange Flowers, aus dem irischen Englisch von Anna-Nina Kroll. 272 Seiten, Diogenes, 2024. € 24,70. E-Book € 20,99