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In der Zwickmühle

Die niederländische Autorin Anna Enquist. © Bernd Nienhuis

Im Original heißt Anna Enquists jüngster Roman „Sloop“, das bedeutet Abriss / Abrissarbeiten. Davon wird zur Einleitung erzählt: Die Abrissbirne schwingt gegen die Hausmauer und zerstört das Bild eines Künstlers. In der deutschen Übersetzung hat man sich für den Titel an den Inhalt des Bildes gehalten, ein Mädchen, das seilhüpft. Doch ist sie nicht die Hauptperson, sondern die Komponistin Alice Augustin. Die Seilspringerin ist ein ruhiger Roman über das Dilemma, in dem vor allem Künstlerinnen stecken: Komponieren oder Kochen, Kind oder Kunst?

Die Entstehung des Freskos. Westerik gibt mit dem Sprachrohr Anweisungen, wie gemalt werden soll.  © BKOR / bkor.nlAlice sitzt vor dem Computer, soll eine Kurzbiografie verfassen, doch sie sieht lieber den Abreißarbeiten am Polizeipräsidium an der Haagseveer, einer Straße im Zentrum von Rotterdam, zu. Mit dem alten Haus wird auch das junge Bild zerstört. Doch nicht, dass das Fresko des berühmten Malers demoliert wird, irritiert sie, sondern das Bild des Mädchens. Den Rücken den Betrachterinnen zugewandt, steht das Kind mit beiden Beinen auf dem Boden und ist zugleich mitten im Sprung, die Knie angewinkelt, die Schuhsohlen der Haagseveer zugewandt, die Arme schwingen das Seil über den Kopf. Co Westerik (1924 – 2018) hat dieses riesige Wandbild 1976 gemalt. Das seilspringende Mädchen gibt es nur noch als altes Foto. © BKOR / bkor.nlDass es nur vorübergehend sei, wusste er. 1988 ist das alte Politiepalais einem Neubau gewichen, das Kunstwerk ist zerbröckelt und mit dem Schutt verschwunden. Das hat den Schöpfer, obwohl er wusste, dass sein Werk nicht für die Ewigkeit gedacht war, geschmerzt. Das Modell war seine Tochter Kristina, doch wie er danach in Interviews zugegeben hat: Noch einmal machen möchte er es nicht, das tut zu weh. Von Künstlerschmerzen handelt Enquists Buch zwar auch, doch sind es keine wegen der Zerstörung eines Werkes. Alte Bewohnerinnen von Rotterdam erinnern sich übrigens noch immer an die Wandmalerei und bedauern ihr Verschwinden. Das neue Polizeipalais in Rotterdam, ohne Wandbemalung. © wikipediaDoch warum darf der Tanz und im Grunde auch die Musik ephemer sein, kaum gesehen / gehört, schon wieder entschwunden und die Malerei nicht? Noten und Notationen bewahren zumindest die Grundlagen für eine Rekonstruktion. Doch so, wie die Symphonie einmal gehört, die Choreografie einmal gesehen worden ist, wird das nie wieder geschehen. Wie gesagt, darüber macht sich die Protagonistin in Die Seilspringerin keine Gedanken, sie ist von dem Bild des Kindes angerührt. „Das könnte meine Tochter sein“, denkt sie.Die Seilspringerin an der Wand des Polizeipräsidiums. © BKOR, aus dem Video eines Interviews mit Co Westerik Sie ist bald 40 und wünscht sich sehnlichst ein Kind. Es klappt nicht, weder vor Ihrer Heirat, mit wechselnden Beziehungen, noch durch die Behandlung in der Kinderwunschklinik. Ihr Ehemann, Mark, ein Finanzjurist, hat die Lieben nach dem Kalender langsam satt, von Musik versteht er ohnehin nichts. So leben die beiden friedlich, aber fremd nebeneinander her.
Joseph Haydn, Ölgemälde von Thomas Hardy, 1791. Alice bewundert und verehrt den Komponisten. Alice ist eine erfolgreiche Komponistin, das erfährt die Leserin gleich zu Beginn, wenn sie in der Biografie, die sie auf dem Computer tippt, lesen darf. Nach vielen kleinen Erfolgen erhält sie vom Königlichen Symphonieorchester in Amsterdam den Auftrag, für dessen 100-Jahr-Jubiläum ein großes Chorwerk mit Solisten zu komponieren. Da hat ein Kind ohnehin keinen Platz. Man macht ihr ohnehin immer klar, wie es läuft: Ein Komponist hatte keine Kinder, er hat eine Frau, die Kinder hat. Schon im Studium hat ihr ein Kollege diese Weisheit „verächtlich“ an den Kopf geworfen. Alice hat ohnehin keine große Meinung von sich selbst, sie duckt sich, macht sich klein, niemand darf wissen, dass sie ihr Geld mit schmalzigen Werbemelodien verdient. In der Agentur hatte sie Mark kennengelernt und von Beginn an gingen sie im Gleichschritt. Doch auch Mark schafft es nicht, Alice aufzurichten, ihr Selbstbewusstsein zu geben und auch kein Kind.  Kupferstich von Augustus Frederick Christopher Kollmann, der Haydn zu den besten Komponisten gezählt hat. J. S.. Bach ist im Zentrum. Allgemeine musikalsiche Zeitung 1799. © wikipediaAnna Enquist, eigentlich Anna christa Widlund-Broer, geboren, 1945 in Amsterdam, ist selbst Musikerin. Sie hat am Königlichen Konservatorium in Den Haag ihr Examen als Konzertpianistin abgelegt und danach klinische Psychologie in Leiden studiert. Mit 45 Jahren begann sie zu schreiben, veröffentlichte Gedichte, Essays und Romane. Die sind alle, auch Die Seilspringern, als Komposition angelegt, und Musik spielt immer eine wichtige Rolle. Aktuell ist es Joseph Haydn, den Alice zu ihrem Lieblingskomponisten und unsichtbaren Gefährten erwählt hat. Haydn, so meint sie, war auch kinderlos und einsam, und schlecht bezahlt wie sie als ernsthafte Komponistin. Zu Haydns Lebzeiten war das Baryton hoch in Mode, Haydn litt darunter, dass sein Dienstherr, Fürst Eszterhazy, dieses Instrument mehr schlecht als recht spielte. © wikipediaAn Anerkennung hat es ihm jedoch nicht gefehlt. Männer haben es als Künstler auch heute noch leichter, Frauen kamen im 18. Jahrhundert noch kaum vor im Kunstpalaver. In der Literatur heben es alle Menschen, ob weiblich, männlich oder divers, geschafft, ernst genommen zu werden.
Anna Enquist erhielt für ihren Debütroman, Das Meisterstück / Het meesterstuk, 1995 den Debütantinnenpreis, 2014 wurde der Asteroid 52457 Enquist genannt. 2008 ist der Roman Kontrapunkt / Contrapunkt erschienen, indem sie den Tod ihrer damals 27-jährigen Tochter Margit, die 2001 auf dem Dam-Platz in Amsterdam von einem Lastwagen überrollt worden ist, verarbeitet. Die namenlose Frau in dem Roman versucht, die Trauer über den Verlust in schöne, beglückende Erinnerungen zu verwandelt, in dem sie sich intensiv mit Musik beschäftigt. Sie übt, als ehemalige Pianistin, die Goldbergvariationen neu ein. Als sie das erste Mal studiert hat, saß beim Üben das Töchterl auf ihrem Schoß. Die Musik spielt in allen Romanen der Autorin eine wichtige Rolle. © publicdomainpictures.net zu finden. Der Mutter ohne Namen gelingt es, mit der Musik, Johann Sebastian Bachs Goldberg-Variationen, nicht in Trauer und Schmerz unterzugehen. Sie spielt Bach und denkt an glückliche Momente mit der Tochter.
Alice kann das Komponieren und den Kinderwunsch nicht wirklich vereinen. Enquist, die auch Therapeutin ist, deutet an, dass sie in Wahrheit noch gar nicht bereit ist für ein Kind. Ist doch jede Komposition ein Kind von ihr, das sie aber hergeben muss. Alice steht vor der Kommission, um über den Jubiläums-Auftrag zu sprechen. Während das Auditorium diskutiert, denkt sie über die Entstehung einer Komposition nach: Cover der niederländischen Ausgabe von „Die Seilspingerin“. © 2021 by De Arbeiderspers

Es ist eine Befruchtung, etwas wird in mir gepflanzt und in den nächsten Monaten wird es anfangen zu wachsen, detaillierter zu werden, immer deutlicher, ein Stück mit einem spezifischen, individuellen Charakter, größer und größer, bis es bereit ist, herauszukommen. Idiotischer Vergleich.

Inspiriert vom demolierten Werk des Maler Co Westerik, nennt Alice ihre große Komposition Demolition, als Gegenstück zu Haydns Oratorium Die Schöpfung. Sowohl Haden wie auch Alice Augustin haben mit ihren Werken Ruhm, Ehre und auch beträchtliche Honorare genießen dürfen. Anna Enquist erzählt in der Gegenwart und Vergangenheit (von Alice), Schutzumschlag für die deutsche Ausgabe. © Luchterhandwechselt von den Gedanken Alices zu den Beobachtungen der Autorin und hält einen Rhythmus, der zum Weiterlesen auffordert. Auch wenn die Geschichte eher trivial ist und auch das Dilemma zwischen Kunst und Leben nicht zum ersten Mal behandelt wird. Doch das doppelte Problem, der scheinbar unerfüllbare Kinderwunsch und die mangelnde Anerkennung von Frauen in manchen Sparten der schönen Künste, ist immer noch brandaktuell.

Anna Enquist: Die Seilspringerin, aus dem Niederländischen von Hanni Ehlers. 304 Seiten, Luchterhand 2024. € 24,70. E-Book; 18,99
                       Kontrapunkt, aus dem Niederländischen von Hanni Ehlers. 224 Seiten, Soft, btb, 2011. € 12,40. E-Book: 8,99