Der Wunschzug ist abgefahren
Lichtjahre im Dunkel nennt Friedrich Ani seinen jüngsten Roman, in dem er mit gewohnter Brillanz von den Versehrten, Vermissten, Strauchelnden erzählt und nach sechs Jahren Pause den Privatdetektiv Tabor Süden noch einmal aus dem Ruhestand zurückholt. Anfangs ist es nur eine Vermissung, wie Süden Vermisstenfälle zu nennen pflegt, doch bald wird daraus ein Mordfall.
Friedrich Ani führt seine Leserinnen wieder ins Dunkel, in eine freudlose Welt, in der die Hoffnung auf Lichtjahre längst erloschen ist. Am Ende gibt es doch einen hellen Schimmer: die Liebe. Ausgerechnet ein Schnösel, der im Cabrio seines Vaters, der Geschäftsführer eines sogenannten Tanz- und Amüsierbetriebs namens Keusche Göttin in der Hauptstadt ist, von Berlin nach München reist, um seinen Halbbruder zu besuchen, den er später „aus Liebe“ rettet.
Der Mord, wenn es denn einer war, und das vorsätzliche sich Bebieren im Blauen Eck, das tatsächlich jeden Abend stattfindet, spielt sich in München ab, dort, wo Tabor Süden sich auskennt. Viola Ahorn, Mittvierzigerin auf der Suche nach dem Glück, engagiert Tabor Süden, um ihren verschwundenen Ehemann zu finden, die Einmischung der Polizei lehnt sie strikt ab. Und gar so brennend ist sie an der Wiederkehr ihres Leo auch nicht interessiert.
Zuletzt gesehen wurde Leo Ahorn in seiner Stammkneipe, dem „Blauen Eck“, wo er von seinem Nachbarn und Trinkkumpanen, Georg Kramer, das Geld zu bekommen hofft, um sein desolates Schreibwarengeschäft zu retten. Das Dreieck, Viola Ahorn, Georg Kramer und der bisher unbekannte, überraschend aufgetauchte Halbbruder (gemeinsame Mutter, verschiedene Väter) tragen die graue Geschichte. Für alle drei ist „der Wunschzug abgefahren“, wie Viola Ahorn sagt.
Das Verschwinden Leo Ahorns, sein Auftauchen im Kofferraum eines Zuhälters; der Besuch des Halbbruders, Sandro Fels, bei Georg Kramer, wo er auf einer alten Schreibmaschine einen Brief tippt und die Lösung des Falles Ahorn durch die Kriminalbeamtin Fariza Nasri, diese ganze im Detail erzählte Geschichte, die für die Leserinnen mehr als einen Mord zutage bringt, liegt viele Jahre zurück. Tabor Süden erzählt sie, um seiner großen Liebe, der Kollegin Fariza Nasri, nahe zu sein. Genau betrachtet, hat der Roman einen Rahmen, den düsteren Träumer und Berichterstatter Tabor Süden. Süden hat einen alten Nachbarn, mit dem er Fälle bespricht, wodurch die Leserinnen erfahren, dass auch Süden ein Privatleben und Gefühle hat.
Der schweigsame Tabor Süden, der als Polizist für die Suche nach Vermissten zuständig war und später in einer Privatdetektei gelandet ist, hat längst Kultstatus erreicht. Mehr als 20-mal war er schon im Einsatz, bei der Kripo, in der Vermisstenstelle, als privater Ermittler. Er hat eine Fangemeinde und Preise gewonnen und ist sogar in Filmen aufgetreten. Dann hat ihm sein Schöpfer eine Pause gegönnt. Nach sechs Jahren taucht er wieder auf, traurig und wortkarg, auch sein Wunschzug ist mit Nasris Tod abgefahren. Er tröstet sich mit vier Hellen, er „bebiert“ sich, wie er sich ausdrückt, und schaut den Menschen zu, die versuchen, ein Stück vom Glück zu erhaschen.
Zugleich mit dem Roman hat der Suhrkamp Verlag auch einen neuen Gedichtband von Ani herausgebracht. Der Titel ist ein Rätsel oder besser ein Teekessel: Stift. Der Stift ist ein kleiner Büroangestellter und zugleich ein Schreibwerkzeug, das Stift ist das der christlichen Mönche. Wie für seine Prosa, so bedient sich Ani auch für die Lyrik einer klaren und deutlichen Sprache. Manche Gedichte erzählen vom Trübsinn, vom selbstgewählten Alleinsein und auch von der Einsamkeit, doch es gibt auch lustige Verslein und sogar gereimte Kalauer. Wichtig ist auch das Schreiben und Lesen, die Wörter können trösten und auch erlösen. Ani braucht in seinen Versen,keine Metaphern, die erst entschlüsselt werden müssen, er spricht Klartext und wendet sich direkt an die Leserin, sie fühlt sich durchschaut. Kleine Geschichten, die zum Nachdenken anregen oder amüsieren, viele der Verse wirken wie plötzliche Einfälle, einfach schnell auf einem Zettel notiert, Gedanken und Erinnerungen, ernst und heiter.
Friedrich Ani: Lichtjahre im Dunkel, 445 Seiten, Suhrkamp, 2024. € 25,70. E-Book: € 21,99
Stift, Gedichte, 214 Seiten. Suhrkamp, 2024. € 20,60. E-Book: € 16,99
Anmerkung zur Bebilderung: Friedrich Ani lässt die Leserinnen wissen, dass „aus Gründen der künstlerischen Freiheit und um Verwechslungen mit in Wirklichkeit dort lebenden Personen zu vermeiden, wurden einige Straßennamen vom Autor geändert.“ Die Bilder dienen der Auflockerung des Textes und müssen nicht unbedingt den im Roman genannten Orten entsprechen.