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Die Abeneuer von James und Huckleberry

Autor Percival Everett, geboren 1956 in Georgia.

Mark Twains erfolgreicher Roman Die Abenteuer des Huckleberry Finn (Adventures of Huckleberry Finn, 1884) gilt als Schlüsselwerk der US-amerikanischen Literatur. Der weiße Bub Huck Finn erzählt darin von seiner Flucht mit dem Sklaven Jim und der Reise entlang des Mississippi. Der vielfach ausgezeichnete afroamerikanische Autor Percival Everett erzählt die Geschichte neu. Nicht der weiße Huck Finn berichtet, sondern der schwarze Sklave James.

EveHuckleberry Finn, Illustration der Originalausgabe von E. W. Kemble. © Quelle. childrensnursery.org.ukrett hält sich an die Handlung von Twains Roman. Auch bei ihm fliehen der weiße Bub und der schwarze Sklave, der Frau und Tochter zurücklässt, weil er verkauft werden soll, gemeinsam durch die Wälder und auf dem Fluss in Richtung Freiheit. Anders als bei Twain, wo der freundliche Sklave Jim eher schlichten Gemüts und ohne Bildung ist, hat James sich lesen beigebracht und ist ein gebildeter Mann, klug genug, um die Weißen zu verspotten, ohne dass sie es bemerken.  Die erste Seite der Originalausgabe „The Adventures of Huckleberry Finn“ von Mark Twain. Er verbirgt, dass er lesen und schreiben sowie sich auch in der Sprache der Weißen ausdrücken kann, denn „es lohnt sich immer, den Weißen zu geben, was sie wollen“. Deshalb spricht er in einer Sklavensprache, die sich Everett ausgedacht hat und auch in der deutschen Übersetzung von Nikolaus Stingl mit falscher Grammatik und verschliffenen Vokalen als einfache Sprache nahezu zu hören ist.Der Sklave Jim (von Everett mit vollem Namen, James, genannt) an der Arbeit.
Twains Roman ist eine Kritik am System von Herrschern und Sklaven zu seiner Zeit. Auch Huck und James kommen einander auf der Flucht immer näher und Huck denkt, wie sein Vorbild Huckleberry (bei Mark Twain), darüber nach, ob ein Mensch eines anderen Menschen Eigentum sein kann. Everett geht jedoch einen großen Schritt weiter. James will kein Opfer mehr sein, er fügt sich nur scheinbar seinem Schicksal und trickst die Mächtigen aus, um vor deren Peitschenhieben sicher zu sein: „Je besser sie sich fühlen, desto sicherer sind wir.“ Die Verbindung von Huck und James ist fatal. Denn Huck hat seinen Tod vorgetäuscht, um dem gewalttätigen Vater, möglicherweise der Stiefvater, zu entkommen. Jim und Huck auf dem Floß. Bei Mark Twain rudert natürlich Jim und Huckleberry ruht sich aus. Jamaes und Huck teilen sich die Arbeit. Auf James ist ein Kopfgeld ausgesetzt, wird er gefangen, gilt er auch als Mörder von Huck. Es ist ein verschlungenes Verhältnis. James, der Unterdrückte, beschützt das Kind der Unterdrücker, doch dieses Kind weiß nicht, wie es sich dem Beschützer gegenüber verhalten soll. Kann sich ein Weißer bei einem Schwarzen entschuldigen? Der damaligen Zeit gemäß wird immer wieder der Begriff „Nigger“ verwendet und kein Zensor hat es aus der im Hanser Verlag erschienen Übersetzung eliminiert.Huck mit Jim finden ein unbewohntes Boot und decken sich mit Essen und Kleidern ein. Stehlen, um zu überleben. Es ist ein Zitat aus der Zeit der Sklaverei, unübersetzbar und unersetzbar. Immer wieder verlieren die beiden einander, doch dann, durch Zufall oder bewusster Suche, treffen sie wieder aufeinander. Auf sich allein gestellt, lernt James eine Gruppe von Minstrels kennen, weiße Männer, die sich schwarz schminken, um als „Nigger“ aufzutreten. James hat eine schöne Stimme und sie wollen ihn in ihren Chor integrieren. Er muss sich doppelt maskieren, damit er als Weißer, der einen Schwarzen spielt, durchgeht. Bei Tag versteckt sich das sonderbare Paar, in der Nacht gehen oder paddeln sie nach Norden. Ziemlich absurd, aber auch witzig. Für ein Jugendbuch, wofür das Original gilt, ist die Brutalität zu ungeschminkt, doch James hat vom Autor eine gute Portion Mutterwitz erhalten und würzt auch die Grausamkeiten und das Unerhörte mit Humor. James, der Erzähler, steht über dem System aus Herren und Sklaven, und kann so manche Situation aus der Vogelperspektive betrachten. Dennoch, wenn James von einem anderen Sklaven einen gestohlenen Bleistiftstummel geschenkt bekommt und der sein Leben dafür lassen muss, vergeht der Leserin das Lachen wieder. Für James ist der Stift, mit dem er auf Papierfetzen die abenteuerliche Reise beschreibt, wichtiger als jede Waffe. Im Lesen hat er die Freiheit erfahren, im Schreiben und Erzählen gewinnt er sie.Jim, der erfahren hat, dass Huck tot ist, hält ihn, als er ihn tatsächlich sieht, für einen Geist und bittet, ihm nichts Böses zu tun. Everett baut seinen Roman, wie Mark Twain, in Episoden auf, die oft gefährlich und lebensbedrohend sind. Damit hält der Autor die Spannung. Wie wird das Abenteuer für die beiden, den kleinen Ausreißer und den ums Überleben und seine Freiheit kämpfenden Sklaven, enden? James denkt nicht nur an sich selbst, er will frei sein, um auch seine Frau und die kleine Tochter zu befreien.
Everett schafft es, mit Humor und Empathie eine politische Satire zu schreiben, die zwar im 19. Jahrhundert spielt, jedoch überaus zeitgemäß ist. Heimlich stiehlt sich Huckleberry aus dem Haus und inszeniert einen Tod. Das N-Wort („Nigger“ im Deutschen, aber auch für „Neger“ stehend) wird zwar in Wort und Schrift nicht mehr verwendet, weil es von den Betroffenen als Beleidigung und Respektlosigkeit empfunden wird, doch ist der Alltagsrassismus deshalb nicht verschwunden. Was denken wir, wenn ein gut angezogener Farbiger in einer U-Bahn-Station steht und das iPhone am Ohr hat? So amüsant und auch spannend die Erzählung ist, Schutzumschlag des Romans „James“ von Percival Everett. © Carl hanser Verlagso großartig der Stil des Autors ist, so wenig entkommt die Leserin am Ende der Erforschung des eigenen Gewissens. Ein Roman, der sowohl den Ansprüchen der Literaturkritikerinnen und Germanistinnen entspricht als auch jenen der Leserinnen. „Prodesse aut delectare“, nützen oder unterhalten, wollten die Poeten, hat der römische Dichter Horaz (65–8 v. Chr.) geschrieben, doch hinzugefügt „oder beides“. Das eben schenkt den Leserinnen Percival Everett, das Nützliche und auch das Unterhaltsame.

Percival Everett: James, übersetzt aus dem Englischen von Nikolaus Stingl. 338 Seiten, Carl Hanser, 2023, € 26,80. E-Book € 19,99.
© Illustrationen aus der Originalausgabe von Mark Twains Roman The Adventures of Huckleberry Finn, von E. W. Kemble. Quelle: childrensnursery.org.uk/
Ebenfalls empfehlenswert:
Percival Everett: Die Bäume, übersetzt aus dem Englischen von Nikolaus Stingl. 368 Seiten, Carl Hanser, 2023, 3. Auflage. € 26,80. E-Book der Woche:  4,99.